Wahlabend in Tel Aviv - Das Gegenteil von Netanjahu

Kolumne: Brief aus Tel Aviv. Während ihre deutschen Freunde erschüttert auf das gute Abschneiden der AfD reagieren, verbringt unsere Autorin den Wahlabend in Israel. Dort sieht man den Einzug der Rechten jedoch weitgehend gelassen. Stattdessen überwiegt eins: Merkel-Begeisterung

Den Wahlabend erlebte Sarah Stricker in ihrer Stadt Tel Aviv bei 30 Grad / picture alliance
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Autoreninfo

Die Schriftstellerin Sarah Stricker lebt seit acht Jahren in Tel Aviv. Ihr Debütroman „Fünf Kopeken“ (Eichborn) wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchst dotierten Preis für ein deutschsprachiges Erstlingswerk, und wird derzeit in mehrere Sprachen übersetzt.

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Als Jörg Schönenborn den AfD-Balken hochzieht, läuft unter dem Balkon gerade ein kleines Mädchen vorbei und trommelt ihrem Bruder mit dem Schnorchel auf den Kopf, während sie einen hebräischen Popsong vor sich hin kräht. Der deutsche Wahlsonntag fällt in Israel zwischen zwei Feiertage; viele Menschen haben frei, die Straßen sind voll, auch jetzt am Abend fallen die Temperaturen kaum unter 30 Grad. Es hat etwas Absurdes: unter mir heiteres Urlaubstreiben, oben auf dem Balkon Grabesstimmung. Mein deutscher Nachbar, mit dem ich mich spontan zum Livestream-Gucken getroffen habe, schaut kopfschüttelnd auf den Laptop; auf dem Bildschirm sieht man entsetzte Gesichter; mein Facebook-Feed wechselt zwischen „Nicht mein Land“ und „Wer die AfD gewählt hat, soll mich bitte entfreunden“.

„Noch mal vier Jahre Vagina-Hands!“

Noch absurder scheint mir jedoch die Whatsapp-Nachricht, die ich von einer israelischen Freundin bekomme. „Glückwunsch“, schreibt sie, dahinter Sektflaschen-, Blumenstrauß-, Klatschehände-Emoticons. 
„???“, schreibe ich.
„Merkel rules!“, antwortet sie.

Eine Stunde später beim Essen im Stammrestaurant will mir der Nächste gratulieren.
„Noch mal vier Jahre Vagina-Hands!“, sagt der Besitzer, den ich seit Jahren kenne, und formt grinsend eine Raute vorm Körper, „Masseltov!“ Warum sich eigentlich alle so sicher seien, dass ich für die CDU gestimmt hätte, will ich fragen. Aber bevor ich etwas sagen kann, beginnt er schon, von Merkel zu schwärmen, wie vernünftig sie sei, wie besonnen, wie klug, vor allem aber: frei von Skandalen „Das Gegenteil von Netanjahu!“ Gut, ihre Entscheidung gegen die Ehe für alle nehme er ihr noch etwas übel. Aber es sei schon bewegend, dass gerade eine deutsche Kanzlerin Herz zeige, während sich die anderen Europäer mehrheitlich wegduckten…

Aber ob er denn auch von dieser neuen rechten Partei gehört habe, unterbreche ich ihn.
„Ach, von dieser abgespeckten Alt-Right-Truppe mit ihren zehn Prozent?“
„Um die Dreizehn“, korrigiere ich.
Er zuckt unbeeindruckt die Schultern.

Keine Angst vor der neuen Rechten

„Pfff, das sei doch gar nichts“, pflichtet ihm eine Frau vom Nebentisch bei, die den Besitzer vielleicht ebenfalls kennt, oder sich vielleicht auch einfach nur so beteiligen will; in Israel braucht man für eine politische Diskussion keine gesonderte Einladung.
Tatsächlich habe sie gerade erst ein Interview mit der Chefin dieser „Alternativa le Germania“ gesehen. Nein, sympathisch habe sie die nicht gefunden, vor allem, wie sie sich an die israelische Reporterin rangewanzt habe, von wegen, man säße in Sachen islamistischer Terror ja im selben Boot. „Widerlich! Aber in anderen Ländern sieht es doch genauso aus. Le Pen, Wilders, Orbán…“
„Ja schon“, räume ich ein, „aber macht euch ein Comeback der Rechten in einem Land wie Deutschland nicht mehr Angst?“
Die Frau lacht. „Ach Kindchen, wir reden hier von einer Partei, deren Spitzenkandidatin lesbisch ist und mit einer Frau aus Sri Lanka zusammenlebt. Wenn das das Rechteste ist, was ihr zu bieten habt, bringt mich das erstmal nicht um den Schlaf.“

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