Wahl-O-Mat - Die Qual der Wahl

Seit fast 20 Jahren weiß der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung selbst dann noch weiter, wenn der Souverän nur noch ratlos mit den Schultern zuckt. Jetzt ist das kleine Tool für die kommende Bundestagswahl freigeschaltet worden. Was verrät der Erfolg der Wahlhilfe über Wahl und Wähler?

Werbekampagne für den Wahl-O-Mat / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Seit fast 20 Jahren kümmert sich die Bundeszentrale für politische Bildung um Spät- und Schwerentscheider. Die soll es, so behaupten es zumindest Demoskopen und Politologen, gerade im Vorfeld wichtiger Parlamentswahlen immer häufiger geben. Gefragt, welche Partei man denn am nächsten Wahlsonntag wählen werde, ernten Umfrageinstitute immer öfter Kopfschütteln und Schulterzucken. Eine Studie, die kurz vor der Bundestagswahl im Jahr 2017 herausgekommen ist, will die Zahl dieser Spätentscheider auf 40 Prozent der Wahlberechtigten taxieren. Fünf bis zehn Prozent aus dieser Gruppe hätten ihre Wahlentscheidung sogar erst auf dem Weg ins Wahllokal getroffen.

Genau hier setzen spielerische Entscheidungshilfen wie etwa der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung ein. Damit man nämlich nicht zum Last-Minute-Wähler werden muss, der auf den letzten Metern irrational und impulsiv über die eigene Kreuzchensetzung nachdenken muss, stellt eine vielköpfige Redaktion aus Experten und Laien wenige Wochen vor den wichtigen Landtags- und Bundestagswahlen Aussagen zu nahezu allen politischen Bereichen zusammen, über die jeder User anschließend online abstimmen kann. 

Die Nutzerzahl wächst

Und das Beste: Es werden dabei keinerlei Nutzerdaten oder individuelle Ergebnisse gespeichert. Der ratlose Wähler ist mit sich und mit den oft so zahl- wie hirnlosen Thesen aus dem Inneren des interaktiven Tools allein: „Impfstoffe gegen Covid-19 sollen weiterhin durch Patente geschützt sein“, „Alle Erwerbstätigen sollen in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sein müssen“, „Spenden von Unternehmen an Parteien sollen weiterhin erlaubt sein“ – dies sind nur einige der 38 Aussagen, die beim Wahl-O-Mat 2021 auf dem Prüfstand des nach Orientierung suchenden Souveräns stehen. Der kann den Aussagen anschließend zustimmen oder sie ablehnen, er kann Thesen gewichten oder überspringen und die späteren Ergebnisse im Nachgang sogar noch genauer analysieren und bewerten.

Über die Jahre hat sich der Wahl-O-Mat so zu einer festen Informationsgröße im Vorfeld politischer Entscheidungen gemausert; ein guter Freund für all die, die im Land der ungezählten Joghurtmarken und der schier endlosen Flavour-Mixturen beim Beuteltee nicht auch noch beim Urnengang im Regen stehen gelassen werden wollen. Schließlich ist am alles entscheidenden Wahlsonntag nur einer Partei die Referenz zu erweisen, und Fehlentscheidungen können sich sehr schnell rächen.

Der Markt der Möglichkeiten

Waren es im Auftaktjahr 2002 lediglich 3,6 Millionen User, die die digitale Unterstützung für sich in Anspruch nahmen, so waren es bei der Bundestagswahl 2017 fast schon 16 Millionen. Und selbst die Wahl-O-Mat-Version zur weit weniger frequentierten  Europawahl 2019 wurde von immerhin zehn Millionen Nutzern mindestens einmal „durchgespielt“.

Ob sich das Tool, das es seit gut zehn Jahren auch als Handy-App gibt, somit beim Wähler wirklich bewährt hat oder ob Wahlentscheidungen in den zurückliegenden Jahren schlicht derart schwierig geworden sind, dass man als Bürger nur noch ratlos vor dem Angebot aus derzeit 40 mehr oder minder unterschiedlichen Wahlangeboten steht, ist mit derartigem Zahlenwerk natürlich längst nicht erwiesen. Parteienforscher und Soziologen gehen eher davon aus, dass es dem Wegbrechen der einstigen Stammwähler und dem Ende der großen Volksparteien geschuldet ist, wenn sich der Wähler heute weit länger auf dem Markt der politischen Wahlmöglichkeiten tummelt als noch vor wenigen Jahren. Zudem sorgen eine immer größer werdende Flut an Umfragen sowie TV-Spektakel auf nahezu allen Kanälen dafür, dass zwar die Wahlbeteiligungen nicht weiter zunehmen, dass aber der Event-Charakter politischer Entscheidungen gestiegen ist. 

Das hat wohl auch dazu geführt, dass der Wahl-O-Mat, den man wohl längst mit „gut“ und „alt“ attribuieren darf, in den zurückliegenden Jahren mehr und mehr Alternativen und Konkurrenzangebote gefunden hat: Den WahlSwiper der Universität Freiburg zum Beispiel – ein nicht-kommerzielles Smartphone-Tool, das wie eine konventionelle Dating-App funktioniert. Zwar kann man den Sieger am Ende nicht küssen, dafür aber erleichtert einem die App die quälende Suche nach dem Kanzlerkandidaten des Herzens.

Wählen mit Wahltraut

Die Diakonie Deutschland wiederum bietet den sogenannten Sozial-O-Mat an, der einem eine besondere Orientierung auf dem Feld von Arbeit, Gesundheit, Familie und Kinder gibt. Und die feministische Initiative #stattblumen hat mit der Internetseite Wahltraut ein Entscheidungswerkzeug programmiert, das den „Fem-Faktor“ der einzelnen Parteien ins Visier nimmt. Ziel von Wahltraut ist es nämlich, so schreiben es die Betreiber, „dass endlich Veränderungen folgen und der nächste Bundestag mit Kandidat*innen besetzt wird, die für feministische Forderungen einstehen“. 

Gut, dass bis zur Bundestagswahl noch etwas Zeit ist. Da lässt sich noch das ein oder andere Tool durchspielen. Den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es auch auf der Seite von Cicero. Andere Wahlentscheidungshilfen müssen Sie aus der Weite des Netzes selbst herauswählen. Um eine eigenständige Wahl kommt am Ende eben niemand herum.

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