Volksentscheide - Mehr innere Demokratie wagen

Die lauter werdenden Rufe nach mehr Bürgerbeteiligung befrieden eine Gesellschaft nicht. Oft fördern sie nur den Egoismus aktiver Minderheiten, die sich als „Volkes Wille” ausgeben. Gefordert sind die Parteien, mehr Vielfalt zuzulassen

Wahlzettel beim Referendum in Italien: Die direkte Demokratie polarisiert und spaltet / picture alliance
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Wolfgang Bok war Chefredakteur und Ressortleiter in Stuttgart und Heilbronn sowie Direktor bei der Berliner Agentur Scholz & Friends. Der promovierte Politologe lehrt an der Hochschule Heilbronn Strategische Kommunikation.

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Na also. Geht doch! Die Österreicher haben die Ehre der Schwarmintelligenz gerettet und gezeigt, dass „Rechtspopulismus und Nationalismus” nicht die Oberhand gewinnen müssen, wenn das Volk direkt entscheiden darf. So wird die Wahlentscheidung für den früheren Grünen-Chef Alexander van der Bellen zum künftigen Bundespräsidenten gerne von jenen gedeutet, die „mehr direkte Demokratie“ als Therapie gegen Parteien- und Politikverdrossenheit empfehlen. 

Schön wär’s. In Wahrheit belegt die Schlammschlacht um die Wiener Hofburg das Gegenteil: Das Land ist tief gespalten. In fünf von acht Bundesländern liegt der Kandidat der rechts-konservativen FPÖ vorne, der insgesamt erneut beachtliche 48,3 Prozent erreicht hat. Der Graben durchpflügt nicht nur Rechts gegen Links, sondern auch Stadt gegen Land. Wer auch in Deutschland den Bundespräsidenten direkt wählen lassen will, muss sich fragen lassen: Soll auch bei uns ein weiterer galliger Wahlkampf um das höchste Staatsamt geführt werden, in dem sich die Kandidaten parteipolitisch profilieren müssen? Und wie soll der Sieger dann dem Anspruch als überparteilicher Mahner gerecht werden?

Immer nur dagegen

Das ist die Krux der direkten Demokratie: Sie polarisiert und spaltet. Ob Personal- oder Sachfragen zur Abstimmung gestellt werden; die Bürger müssen Position beziehen und sich entscheiden. Ja oder Nein. Dafür oder dagegen. Dann aber wird die einmal getroffene Festlegung mit Verve verfochten. Entgegen dem basisdemokratischen Ideal, wonach am Ende die besseren Argumente zur gemeinsamen Einsicht führen, sind eben nur wenige Menschen bereit, öffentlich ihren Irrtum einzugestehen und zu bekennen: Ja, die Gegenseite hat Recht! Es obsiegt vielmehr die Psychologie des Rechthabenwollens. Für jedes Argument wird ein Gegenargument hervorgekramt. Die Meinung des Anderen wird abgewertet, nicht selten gar verdammt.

Gerne wird auf die Schweiz als Vorbild einer erfolgreichen Basisdemokratie verwiesen. Doch erstens haben die 8,3 Millionen Eidgenossen darin eine lange Tradition. Und zweitens müssen sie in Finanzreferenden auch entscheiden, wie diese oder jene Forderung letztlich zu finanzieren ist. Das fördert den pragmatischen Blick für das Mögliche. Also stimmen die Schweizer gegen einen überstürzten Atomausstieg und auch regelmäßig gegen mehr Sozialstaat. In Deutschland fehlt diese umfassende Verantwortlichkeit. Hier verbrämt das Ziel, egoistische Interessen durchzusetzen, oft den Ruf nach mehr plebiszitären Elementen. Man ist vor allem dagegen. Gegen eine neue Straße, gegen einen neuen Bahnhof (Stuttgart 21) oder eben gegen ein Asylheim in der Nachbarschaft.

Ostpolitik wäre bei Abstimmung durchgefallen

„Da sitzen immer dieselben Leute”, sagt mir unlängst ein hochrangiger Kommunalbeamter, der die gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbeteiligung zu organisieren hat. Ergraute Wutbürger und Alt-68er mit viel Zeit nehmen für sich in Anspruch, klüger zu sein, als die von weit mehr Bürgern gewählten Gemeinderäte, die das Wohl der gesamten Stadt im Blick haben müssen. Auf Landes- oder Bundesebene sind die Auswirkungen noch weit komplexer und folgenschwerer. Das verdeutlicht ein Blick in die deutsche Geschichte: Ob Adenauers Westbindung oder Brandts Ostpolitik, ob Schmidts Nato-Doppelbeschluss oder Schröders Reformagenda 2010: Diese Weichenstellungen wären bei Volksabstimmungen wohl durchgefallen. Dennoch waren sie richtig.

Und haben sich die Briten wirklich einen Gefallen getan, als sich eine hauchdünne Mehrheit mit falschen Versprechen zum Austritt aus der Europäischen Union verleiten ließ? Gegen den Willen einer klaren Parlamentsmehrheit, die sich eben nicht nur von momentanen Stimmungen leiten lassen, sondern später auch verantwortlich gemacht werden kann. Diese Lehre muss man nun leider auch den Italienern wünschen: dass sie die Zeche für ihre ewige Refomverweigerung an ihre Populisten weiterreichen – und nicht auf die wenigen Nettozahler in der EU, also vor allem auf Deutschland, abwälzen können.

Furcht vor Merkels Peitsche

Die repräsentative Demokratie wird allerdings nur akzeptiert, wenn sie ein Mindestmaß an Pluralität garantiert. Daran mangelt es, ob in der Europa-, Energie- oder Flüchtlingspolitik. Eine Opposition, die die Sorgen eines erheblichen Teils der Bevölkerung aufgreift, findet im Bundestag nicht statt. CDU, SPD, Linke und Grüne tun gerade so, als gäbe es zur ewigen Euro-Rettung, Landschaftsverspargelung und „Willkommenskultur“ keine Alternative. Abweichende Meinungen werden unter die Knute des Fraktionszwangs gejocht.

Diese Macht der Parteifunktionäre gilt es, aufzubrechen. Etwa indem zwei Drittel der Mandate für jene Abgeordnete reserviert wären, die in ihrem Wahlkreis aus eigener Kraft die Mehrheit erringen und damit ihren Wählern direkter verantwortlich sind. Das würde die Macht der Parteispitzen, die aussichtsreiche Listenplätze nach Wohlverhalten vergeben können, deutlich einschränken. Wirklich freie Abgeordnete würden die Folgen einer naiven Flüchtlingspolitik vielleicht sogar im Bundestag thematisieren. Selbst im Kanzlerwahlverein CDU würden sich deutlich mehr Mandatsträger zur eigenen Meinung trauen, wenn sie nicht Merkels Peitsche fürchten müssten. Dass Widerspruch möglich ist, hat eine Mehhreit beim Essener Parteitag demonstriert. Die ewige Kanzlerin ist nicht unantastbar. 

Es gibt keine alternativlose Politik. Die anderen Möglichkeiten zu benennen und zu diskutieren, gehört zu den Grundpfeilern der parlamentarischen Entscheidungsfindung. Maulkörbe und Denkverbote passen nicht zur Demokratie. Sonst verfestigt sich das Gefühl, von „abgehobenen Eliten” oder einem „Establishment” aus Politik, Wirtschaft, Verbänden, Kirchen, Kultur und Medien bevormundet zu werden. Es unterhöhlt die Bereitschaft, parlamentarische Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Dies fühlt erst zur Spaltung, und dann zur Radikalisierung einer Gesellschaft. Ein warnendes Beispiel dafür sind nicht nur die USA.

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