Unterrichtsausfall wegen Corona - Das Bildungs-Desaster

Der wegen Corona massenhaft ausfallende Schulunterricht hat verheerende Auswirkungen für die junge Generation. Und in Deutschland sind wir nicht einmal in der Lage, digitale Alternativen dazu auf die Beine zu stellen. So dilettantisch kann es nicht weitergehen. „Cicero“-Gastautor Thomas Sattelberger macht Lösungsvorschläge.

Unterricht zuhause am Computer ist in Deutschland Glückssache / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Sattelberger ist Bundestagsabgeordneter der FDP. Der 71-Jährige war von 2007 bis 2012 im Vorstand der Deutschen Telekom.

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Das Bermudadreieck des Lockdowns für kleine und große Familien in Deutschland besteht aus Home Office, Home Care, Home Schooling. Selbst perfekte Bedingungen für digitalen Unterricht wären immer noch keine leichte Herausforderung – erst recht für Alleinerziehende.

Der Skandal dabei: Die von Angela Merkel vor mehr als zehn Jahren ausgerufene „Bildungsrepublik Deutschland“ war auch im März 2020 noch erbärmlich aufgestellt für Digitalunterricht. Der noch größere Skandal: Seit Beginn der Pandemie ist den Bildungsverantwortlichen in Bund und Ländern kein einziger entscheidender Schritt nach vorne gelungen. Roman Herzog würde jetzt sagen: Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen! 

Jede Woche kostet künftigen Wohlstand

Jede ausfallende Unterrichtswoche hat ihren individuellen wie volkswirtschaftlichen Preis; genauso miserabler oder lückenhafter Unterricht. Ifo-Bildungsexperte Ludger Wössmann hat nüchtern berechnet, dass das Bruttoinlandsprodukt allein durch 22 Wochen Schulausfall bis zur Jahrhundertwende um 2,5 Prozent oder 4,09 Billionen Euro sinkt, und dass sich das Lebenseinkommen heutiger Schüler um 5,5 Prozent reduziert. Unökonomisch formuliert: Jede Woche ohne Unterricht frisst ein Stück weg vom künftigen Wohlergehen unserer Kinder und Enkel. Es geht nicht nur um fachliche Wissensvermittlung, sondern auch um soziale Bildung, Werte, Erziehung. 

Wir müssen die Bildung jetzt vor der Pandemie retten wie einst Helmut Schmidt Hamburg vor der Flut 1962: mit Mut, Tatkraft und Bündelung aller zur Verfügung stehenden Mittel. Nach dem Motto „Rette uns, wer kann“ hat Schmidt damals die Bundeswehr verfassungswidrig zu Hilfe geholt. Wenn ein Boot zu sinken droht, dann studiert man nicht die Seefahrtsordnung. Dann heißt es nicht: Rette uns, wer darf! Sondern man stopft die Lecks, mit allen Mitteln.

Deutschlands Bildung hat derzeit mindestens vier große Lecks:

• Viel zu viele Lehrkräfte sind nicht fit für digitalen Unterricht. Im August 2020 habe ich gefordert, sie sollten in den Schulferien Nachhilfe-Kurse belegen. Lehrerverbände haben mich verärgert abgewatscht. Aber die Idee war richtig und ist es immer noch. 

• Viele Schulen und Lehrer sind IT-technisch völlig überfordert. Das digitale Schwellenland Deutschland bräuchte allein bei einer halben IT-Koordinatoren-Stelle pro Schule mindestens 20.000 Fachleute. Das geht auf die Schnelle nur mit Freiwilligen.

• Endloses Warten auf Laptops und Tablets. Vor allem in finanziell schwachen Familien hat immer noch nicht jedes Kind ein für digitalen Unterricht geeignetes Endgerät. Dem groß angekündigten Geräte-Programm für Lehrer fehlt seit Monaten die letzte Unterschrift. Das Geld fließt nicht. Heiliger Bürokratius! Ein Moratorium muss her für komplexe Verwaltungs- und Beschaffungsprozesse.

• Die digitalen Alt- wie Neubauten von Ländern und Bund kollabieren. Mangelhafte staatliche Lernportale, zusammenbrechende Server. Staatliche Lernmanagementsysteme, die bei den Funktionalitäten heillos hinterherhinken. 

So wie Helmut Schmidt 1962 einen Krisenstab gebildet hat, so brauchen jetzt jedes Bundesland und das Bundesbildungsministerium interdisziplinäre Corona-Taskforces aus lauter Bildungspraktikern. Enge Kollaboration statt Silo. Vernetztes Projektmanagement zur Rettung der Schulen, um naturgemäß ständig auftretende Blockaden, Friktionen immer wieder rasch aufzulösen. Ein Gegenmodell zur bürokratischen Arbeitsweise der Exektutive, die nicht versteht, dass Krise einen anderen modus operandi erfordert als windstille Sonnentage.

Pragmatismus statt Perfektion

Die Unberechenbarkeit des Virus fordert Agilität, Rapid-Response-Fähigkeit, Pragmatismus statt Perfektion. Nobelpreisträger Herbert A. Simon würde jetzt rufen: Satisficing statt Maximizing! Stück für Stück flicken, so wie man Dämme stärkt vor einer Sturmflut. Wo sind wie viele Endgeräte noch nicht angekommen bei Schülern und Lehrern? Wo exakt stockt der Mittelabfluss? Wo hakt es im Bestellprozess oder in der Logistik?

Als operativer Airline-Vorstand bei der Lufthansa habe ich frühmorgens um 4 Uhr im Tunnelsystem des Frankfurter Flughafens die logistischen Abläufe der Gepäckauslieferung selbst mehrfach beobachtet, um Defizite schnell durchdringen und beheben zu können: Hands-on-Führung und Umsetzung!

Schülerinnen und Schüler im zusammengebrochenen Distanzunterricht fragen nicht, ob potenzielle Retter zertifiziert sind. Deshalb ist parallel die Frage wichtig: Welche außerschulischen Akteure können auch noch mit anpacken? Vier Vorschläge:

• Alle diejenigen, die bislang am Nachmittag und Abend Kontakt mit Millionen Schülerinnen und Schülern haben. In erster Linie sind dies privatwirtschaftliche Edutechs, also Online-Anbieter von Lerninhalten und -plattformen. Ihre Hilfsangebote (nicht immer perfekt, aber staatlichen Lösungen jedenfalls mehrere Nasenlängen voraus) muss der Staat schnellstmöglich am Runden Tisch annehmen. Manche sind dicht am Frontalunterricht, andere arbeiten spielerischer. Der Mathematiker Daniel Jung zum Beispiel ist der Prototyp für Pädagogik in der Krise. Das apokalyptische Totschlagargument, wie viele Daten beim Online-Unterricht abgegriffen werden können, ist derzeit fehl am Platz. Wir haben jetzt andere Sorgen.

• Die zweite Idee: Rundfunkanstalten. Warum bieten sie nicht vormittags reines Bildungsfernsehen an und probieren sich als echte Helfer in der Krise aus? Problem hierbei, selbst wenn die dritten Programme sich nach Schulfächern aufteilen: ein Standardprogramm für alle lässt sich nicht maßgeschneidert für digitalen Unterricht nutzen. Aber es würde zumindest ein wachsendes On-Demand-Mediathek-Portfolio ergänzen – gerne im Verbund mit EduTechs.

• Drittens: Heute schon über Lösungen für die Zeit nach Corona nachdenken, und zwar über das Angebot freiwilliger Wiederholung einer Jahrgangsstufe (ohne Zeugnis-Vermerk) hinaus. Bildungsexperte Wößmann stellt fest: für Schülerinnen und Schüler mit großen Rückständen bei mathematischen und sprachlichen Basiskompetenzen wäre klassischer Förderunterricht am Nachmittag genauso hilfreich wie studentische Mentoren und Ferienprogramme – und zwar in Distanz wie in Präsenz. Auf der Zeche Carl im Essener Norden wird die Junior-Universität jungen Menschen  unabhängig vom Bildungshintergrund bald Experimentier- und Forschungskurse anbieten. Wir haben Tausende solcher außerschulischen Initiativen; heute noch oft unverzahnt mit Schule.

• Viertens sind alle die gefordert, die Absolventinnen und Absolventen nach der Schule beschäftigen und weiterbilden: Hochschulen, Berufsschulen, Unternehmen & Co. Sie müssen sich jetzt darauf vorbereiten, dass viele ihrer Neuzugänge mit Kompetenzdefiziten kommen werden. Die gilt es mit Brückenangeboten aufzufangen und auszugleichen. 

Helmut Schmidt hat in Hamburg sofort angepackt. Gerhard Schröder hat sich bei der Flut im Oderbruch ohne zu zögern die Gummistiefel angezogen. Edmund Stoiber kam damals zu spät und wurde vom Leben bestraft. Ähnlich schläfrig agiert heute Bildungsministerin Anja Karliczek. Hoffentlich bauen bald andere an der Bildungsrepublik Deutschland.
 

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