Terroranschlag Breitscheidplatz - Die Lebenden und die Toten

Wer sind die Menschen, die bei dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz ermordet wurden? Und warum spielen sie öffentlich kaum eine Rolle? Eine Spurensuche

Erschienen in Ausgabe
Die Frage nach der angemessenen Trauer kommt immer wieder auf / Illustration: Anje Jager
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Constantin Magnis war bis 2017 Chefreporter bei Cicero.

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Es fällt Schnee, als an einem Samstag im Januar der 31-jährige Industriemechaniker Sebastian B. im brandenburgischen Ragösen bestattet wird. Der Tod, zumal so früh, ist immer ein Skandal, er ist nie normal. Trotzdem ist das eigentlich Ungewöhnliche an dieser Bestattung nicht das, was man sieht. Nicht der Pfarrer, der um die richtigen Worte ringt. Nicht die Arbeitskollegin, die in der Kirche mit den Tränen kämpft und unbeholfen, aber sichtlich berührt eine Art Arbeitszeugnis verliest. Nicht die ratlose Familie am Grab, nicht die über 300 betreten schweigenden Trauergäste, nicht die Urne des Verstorbenen, die zur Musik einer Rockballade in der Erde seines Heimatorts versenkt wird.

Sonderbar ist, was man nicht sieht. Sebastian B. ist ein Todesopfer des schwersten Terroranschlags auf deutschem Boden in diesem Jahrhundert. Am 19. Dezember 2016 fährt der Islamist Anis Amri mit einem LKW in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz in Berlin. Über 50 Menschen werden verletzt, zwölf Menschen sterben. Die Beerdigung von Sebastian B. war hierzulande die einzige, die in der Zeitung angekündigt wurde. Wo sind die Übertragungswagen? Die Fotografen? Die Politiker? Der Ministerpräsident von Brandenburg, erfährt man, habe eine Karte geschrieben. Darin erschöpft sich offenbar die Anteilnahme des Landes. 

Die Kirche bleibt halbleer

Vier Wochen nach dem Anschlag trauert Brandenburg in der gleichnamigen Kreisstadt noch einmal offiziell um alle Verstorbenen. Es ist die erste zentrale Gedenkveranstaltung seit Bekanntgabe der Opferzahlen. Aber die Kirche bleibt halb leer. Es ist so kalt, dass der Atem kondensiert. Es liegen Liedzettel aus, doch der Pfarrer singt fast alleine. In der vierten Reihe sitzt die Familie B. Prominenz fehlt. Allerdings ist diesmal der Ministerpräsident da. Er sitzt schweigend in der Bank. „Immerhin“, sagt ein Feuerwehrmann am Ausgang. „Macht ja sonst keiner was.“

Lange war Sebastian, Spitzname Basti, das einzige deutsche Opfer, über das überhaupt etwas bekannt wurde. Dass er Prüfer beim Getriebehersteller ZF in Brandenburg an der Havel und Gruppenführer bei der Feuerwehr war. Dass er für eine externe Schulung in Berlin war und auf dem Weihnachtsmarkt mit einem Kollegen seine bestandene Prüfung feiern wollte. Der Kollege holt sich eine Bratwurst und überlebt. Sebastian B. holt sich einen Glühwein und stirbt. 

Staatsakte geben den Terroristen Macht und Anerkennung

Wie wenig Beachtung diesen Menschen und ihren Angehörigen in den Wochen nach dem Anschlag zukam, während der Täter durch alle Kanäle geisterte, wirkte unangemessen, fast unerhört.

Am Tag nach dem Anschlag eilte die Bundespolitik zur Trauerfeier in der Gedächtniskirche neben dem Anschlagsort und sah damit scheinbar ihre Pflicht erfüllt. Einen Staatsakt, wie er in Polen und Italien, nach dem Germanwings-Absturz und dem Münchner Amok-
lauf auch bei uns stattgefunden hatte, gab es nicht. Und der Bundestag erklärte, man verzichte auf eine Gedenkveranstaltung – um sie Wochen später auf öffentlichen Druck hin nachzuholen. 

Für den Psychiater und Psychotherapeuten Manfred Lütz hat das auch pragmatische Gründe: „Natürlich muss man vor allem die Gefühle der Angehörigen im Blick haben, aber man muss auch bedenken, dass eine Trauerfeier für Opfer islamistischen Terrors seit Charlie Hebdo immer auch die Hilflosigkeit der staatlichen Ordnung offenbart und damit unser eigenes Versagen“, sagt Lütz. „Gleichzeitig gibt man den Terroristen Macht und Anerkennung, wenn jedes Mal die Staatsspitze aufmarschiert, sobald sie mehrere Menschen umgebracht haben.“ 

Wer waren die Opfer?

Angeheizt durch Diskussionen in sozialen Medien entstand zudem der Eindruck, die Politiker drückten sich auch deshalb vor der öffentlichen Würdigung der Opfer, um nicht haftbar gemacht zu werden für eine Politik, die einen solchen Anschlag nicht hatte verhindern können.

„Traurig und unwürdig“ nannte schließlich auch die Partnerin eines verletzten Opfers im Berliner Tagesspiegel die ausbleibende öffentliche Würdigung. Und spätestens, als sich unabhängig voneinander zwei Angehörige von Todesopfern an die Bild gewandt hatten, musste man sich fragen, ob man den Opfern des Terroranschlags etwas schuldig geblieben war. Anerkennung, aber vielleicht auch erst einmal: Erkennung. Wer waren sie überhaupt? Bis heute haben die wenigsten von ihnen Gesichter. Und welchen öffentlichen und politischen Umgang mit ihnen wünschen sich die Menschen, die sie geliebt haben?

Noch immer blickt Sören Schmahl sich in seinem Büro um, wie auf einem Trümmerfeld. Der Informatiker mit Brille ist Chef einer Firma, die Software zum Gebäudemanagement entwickelt. Bei dem Anschlag verlor er zwei seiner 15 Mitarbeiter: Georgiy B. und seine Frau Anna, beide 44. Schmahl hatte sie 2001 aus der Ukraine nach Berlin geholt, er kennt Georgiy seit 1995. Der „geniale Kopf“ wird Chefprogrammierer der Firma und zugleich ein enger Freund. „In den letzten 16 Jahren habe ich mit niemandem so viel gesprochen wie mit ihm.“ 

Das liebevolle Ehepaar

Das Ehepaar integriert sich spielend, sie wird deutsche Staatsbürgerin, er wollte es bald werden. Georgiy spielt Gitarre, Schlagzeug und zweimal die Woche Tennis, den Kilometer von zu Hause ins Büro läuft er täglich zu Fuß. „Besonders liebevoll“ seien die beiden gläubigen Christen miteinander umgegangen, auch im Büroalltag. Fast jede Woche machten sie gemeinsam Ausflüge, zum Wandern, ins Fitnessstudio, ständig erkundeten sie neue Orte.

Der Breitscheidplatz war so ein Ort. Georgiy und Anna leben in Berlin-Adlershof, eine halbe Stunde entfernt vom Ort des Anschlags. Schmahl kommt nicht auf die Idee, dass seine beiden Mitarbeiter dort gewesen sein könnten. Am nächsten Morgen fehlen sie im Büro. Doch Georgiy hatte abends länger gearbeitet, Anna einen Kundentermin. Schmahl denkt sich nichts. Erst als beide unerreichbar bleiben, wundert er sich. Und als der Kunde erklärt, dass Anna nie bei ihm angekommen sei, ruft Schmahl die Hotline für Betroffene an. 

Eine ganz komische Ruhe bleibt

Er kommt sich dabei albern vor, das Telefonfräulein bearbeitet seine Anfrage mit routinierter Höflichkeit. Dann kippt plötzlich ihre Stimme. „Die kommen nicht mehr“, sagt sie. Georgiy ist noch auf dem Weihnachtsmarkt gestorben, Anna später im Krankenhaus. Das Büro versammelt sich um den telefonierenden Chef, Unglauben, Albtraum, Schweigen. „Das war der schlimmste Tag in meinem Leben“, sagt Schmahl. Das Ehepaar wird orthodox in Berlin beerdigt. „Erst danach, als man beide hinter sich in der Kälte hat liegen lassen, wurde es richtig real.“

Sie hinterlassen eine 22-jährige Tochter, die ihre finanziellen und behördlichen Nöte später der Bild schildern wird. Und sie hinterlassen 13 zutiefst verstörte Kollegen. Georgiy war Entwickler der wichtigsten Software, für die Firma ist sein Tod auch wirtschaftlich eine Katastrophe. Anna, genannt Anja, war als Büroassistentin die gute Seele im Haus. Sie nahm Telefonate entgegen und empfing Besucher, seit Jahren dieselbe, vertraute Tonkulisse: Klingeln, dann Annas fröhliche Stimme, sie sprach fast akzentfrei, aber mit russischer Wortmelodie. „Das ist eine ganz komische Ruhe jetzt“, sagt Sören Schmahl.

Ein Kundengeschenk mutiert zum Vorzeichen

Er zückt sein iPhone, die beiden sind noch immer unter den Favoriten gespeichert, zwei strahlende, verschmitzte Gesichter auf dem Display. Er legt den Daumen auf Georgiy und zieht ihn nach links. „Löschen, steht jetzt hier. Ein Scheißgefühl.“ Als der Firmenchef den Namen berührt, wählt das Telefon kurz die Nummer des toten Freundes. Er zieht irritiert die Stirne kraus und legt das Telefon weg.

Annas Strickjacke hängt noch über ihrer Stuhllehne. Georgiys Lederschuhe stehen unter seinem Schreibtisch. Als kämen beide jeden Augenblick zur Türe herein. Auf die Wandtafel hat Georgiy technische Begriffe notiert, niemand wagt sie abzuwischen. Vor seinem Computer steht seit Jahren ein Kundengeschenk, das im Rückblick wirkt wie ein Vorzeichen: ein Spielzeug-LKW, Typ Sattelschlepper.

Die Toten bleiben unsichtbar

Der unbeholfene Umgang der Öffentlichkeit mit den Opfern wundert Schmahl nicht, angesichts der Einzigartigkeit des Mordanschlags. Trotzdem will er seine Freunde gewürdigt wissen. Am 22. Dezember fährt die Belegschaft deshalb zum Breitscheidplatz, im Rucksack Blumen und ein laminiertes Bild der beiden. Doch an der Gedächtniskirche sehen sie keine Fotos, nur viele Kameras. Sie lassen die Blumen da, und nehmen das Bild wieder mit. Die Toten bleiben hierzulande weitgehend unsichtbar. 
Im Ausland ist das anders, wohl auch, weil Angehörige die Anerkennung dort teils offensiv einfordern. So wie im Fall der 60-jährigen Dalia E. aus Israel, Hausfrau aus der Küstenstadt Herzliya und zweifache Mutter, mit ihrem Mann als Touristin in Berlin. Sie stirbt, ihr Mann erfährt erst Tage später davon, als er aus dem Koma erwacht. Weil zu ihrer Beerdigung in Israel kein Regierungsvertreter erscheint, protestiert die Familie in der Presse. In der Knesset wird seitdem ein Gesetz zur besseren Versorgung israelischer Terroropfer im Ausland vorangetrieben.

Im Ausland kommt jeder

Auch Petr C., Ehemann der ermordeten Tschechin Nada C., 34, Mutter eines fünfjährigen Sohnes, geht an die Presse. „Ich möchte nicht, dass Nada nur eine Zahl in einer Statistik ist. Wir sind existierende Leute mit Namen“, sagt er. Das tschechische Ehepaar lebte lange in den USA, in Berlin arbeitete Nada für die Verwaltung des Logistikunternehmens 4flow, zehn Minuten vom Breitscheidplatz entfernt.

Nada besucht mit Kollegen den Weihnachtsmarkt, der LKW des Attentäters überrollt sie gleich am Eingang. Mehrere Kollegen werden verletzt, eine weitere stirbt: die Italienerin Fabrizia D., eine zierliche 31-Jährige mit breitem Lächeln. Sie lebte nach Stationen in Bologna, Mailand und Wien seit 2013 in Berlin, bei 4flow betreute sie Kunden in vier Sprachen. Die Bestattung in ihrem Heimatort in den Abruzzen ist ein Staatsereignis, der Bischof feiert die Messe im Beisein von Staatspräsident und Innenminister.

Nicht minder gewaltig fällt der Abschied vom polnischen Lastwagenfahrer Lukasz U., 37, aus. Er wurde mit einem Kopfschuss getötet. Auch hier hält ein Bischof die Messe, auch hier kommen Staatspräsident und die Kanzleichefin der Premierministerin, das ganze Land sieht Lukasz’ Sohn, 17, beim Weinen zu.

Kein Rummel erwünscht

Dass man all das in Deutschland nicht erlebt, hat allerdings mit den Betroffenen mindestens so viel zu tun wie mit der Politik und der Öffentlichkeit. ­„Friends, I am okay, only minor injuries. We were five. Two died. Two in the hospital for a long time. I cannot explain what happened“, schreibt der Komponist Russell S. am 20. Februar auf Facebook. Die Gruppe um S., unter ihnen der Deutsche Peter V., 72, und dessen Lebensgefährte, der US-Amerikaner Richard R., sitzt in der Glühweinbude, als der LKW durch die Holzwand bricht. Peter V., ein Berliner mit kräftigem, silbergrauem Schnurrbart, stirbt, sein Partner kommt mit schwersten inneren Verletzungen ins Krankenhaus. S. selbst will darüber nicht mehr sprechen. Er versuche all das hinter sich zu lassen, erklärt er.

Möglicherweise gehörten die 65-jährige Angelika K. und ihr 40-jähriger Sohn zur selben Gruppe, jedenfalls werden auch sie in der Glühweinbude vom Laster erfasst. Die beiden kommen aus Lanzerath bei Düsseldorf, das dritte Jahr in Folge fahren sie vor Weihnachten gemeinsam auf einen Kurztrip nach Berlin. Der Sohn wird aus der Bude geschleudert und verliert im Chaos den Sichtkontakt zur Mutter. Erst Tage später erfährt er, dass sie tot ist. Der Sohn ist inzwischen wieder zu Hause, doch noch immer so verletzt, dass er seinen Beruf als Pilot bisher nicht wieder aufnehmen kann. Das Dorf stützt und schützt die Familie, erzählt Ortsprecher Werner Kellers. Angelika K. wird in aller Stille beigesetzt, eine Traueranzeige folgt erst danach, der aufkreuzende Bild-Reporter wird weggeschickt. „Wir wollen keinen Rummel“, sagt Kellers.

Abschirmung der Opfer

Den wollen auch die Angehörigen von Christoph H., 40, nicht. Fotos in Business-Netzwerken zeigen einen sympathischen Bartträger mit hellwachem Blick. Der promovierte Jurist aus Düsseldorf gründet mit SmartLaw ein Start-up, das er erfolgreich wieder verkauft. Auf dem Weihnachtsmarkt stößt er eine Freundin aus der Schneise des heranrasenden LKW. Er rettet ihr so das Leben – und opfert sein eigenes. Mehr Presse dazu wünscht man nicht, heißt es aus der Familie.

Damit steht die Familie für die große Mehrheit der deutschen Angehörigen, sagt Roland Weber, Opferbeauftragter des Landes Berlin. Mit fast allen Hinterbliebenen des Anschlags habe er gesprochen: „Alle, mit Ausnahme der drei, die zu Bild oder Tagesspiegel gegangen sind, sagten: Wir wollen keine Öffentlichkeit.“ Außerdem, erklärt Weber, sei es für die Medien anfangs fast unmöglich gewesen, an die Daten der Opfer zu gelangen. Die Krankenhäuser hätten die Patienten rigoros abgeschirmt. Und die Opferdaten, die in anderen Fällen von der Polizei verwaltet und auch mal durchgestochen werden, habe diesmal zentral das BKA verwaltet. Die Öffentlichkeit hatte sich also mit dem Wunsch der Angehörigen abzufinden, ob sie wollte oder nicht. 

Bedürfnisse der Angehörigen stehen über denen der Öffentlichkeit

Cindy Hartig wollte nicht. Aus ihrer Stadt Eichwalde in Brandenburg stammt eines der Todesopfer: Dorit K., 53, tätig bei der Deutschen Bank in Berlin, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, Witwe, Trainerin im lokalen Turnverein. Der Verein schaltet eine kleine Anzeige, mehr offizielle Trauer war in Eichwalde nicht geplant. „Ne, das kann es nicht gewesen sein!“, ruft Hartig. Sie behängt eine Litfaßsäule am Dorfplatz mit nachdenklichen Sprüchen und Bildern, legt Blumen ab, stellt Kerzen auf, trommelt den Ort zu einer Gedenkstunde zusammen. Schließlich fährt auch die Feuerwehr vor, und sogar der Bürgermeister kommt, obwohl der sich erst geziert habe. Denn tatsächlich, sagt Hartig, habe die Familie darum gebeten, keine öffentliche Trauerfeier abzuhalten. „Aber hier geht es nicht nur um Dorit“, sagt Hartig. „Ich fand, Eichwalde braucht einfach einen Ort, um zu trauern.“ Und eigentlich kennt sie Dorit K. auch gar nicht.

Pfarrer Jens Meiburg seufzt. Die Frage nach der angemessenen Trauer kommt immer wieder, seit er Sebastian B. beerdigt und die anschließende zentrale Gedenkfeier in Brandenburg mitorganisiert hat. Er betreut die Familie B. seelsorgerisch, auch sie wollen nicht noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit, nur ihren Frieden. „Das hat bei den meisten Angehörigen auch mit der Angst zu tun, politisch und medial missbraucht zu werden“, sagt Meiburg. Die Politik habe in ihrer Reaktion auch Rücksicht auf den Wunsch nach Diskretion genommen, die Anteilnahme der Politiker finde statt, aber eben hinter den Kulissen. „Unser Ansatz bei der Trauerarbeit war: Auf die Bedürfnisse der Angehörigen zu schauen ist wichtiger, als die Pseudo­bedürfnisse der Öffentlichkeit zu befriedigen.“

 

Dieser Text stammt aus der Märzausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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