Syrer in Deutschland - Unfreiwillig einsam statt gern allein

Die Ereignisse um den Tod des Terrorverdächtigen Jaber Albakr werfen die Frage auf, wie es syrischen Geflüchteten in Deutschland geht. Sie kommen aus einer Kollektivgesellschaft und werden hier mit einer individualisierten Lebensweise konfrontiert. Kann die Integration trotzdem gelingen?

Unser gesellschaftliches Nebeneinander fühlt sich für viele Syrer kalt an / picture alliance
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Autoreninfo

Kristin Helberg arbeitet als freie Journalistin und Nahostexpertin in Berlin. Von 2001 bis 2008 lebte sie in Syrien und berichtete von dort aus über die arabische Welt. Ihr Buch „Der Syrienkrieg“ ist 2018 beim Herder Verlag erschienen. 
Foto: Jan Kulke

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In Deutschland leben 81 Millionen Individualisten, die die meiste Zeit mit sich selbst beschäftigt sind. Für einen Syrer, der sich sein Leben lang über eine Gemeinschaft definiert hat, ist das ein Schock. Er fühlt sich im Kreise seiner Familie geborgen und alleine ziemlich verloren, sein Alltag bestand aus Netzwerken, die ihn aufgefangen haben. Das Leben, auch in syrischen Städten, hat bis heute dörflichen Charakter, sodass fast jeder jeden kennt. „Die Deutschen reden nicht miteinander, keiner kennt seine Nachbarn, alle haben es eilig, keiner grüßt auf der Straße, beim Einkaufen wechseln die Leute kein Wort“ – so schildern viele Syrer ihre ersten Eindrücke in Deutschland. Anonymität überall und mittendrin ein Syrer, der dem Krieg entkommen ist, das Mittelmeer und die Balkanroute überlebt hat und sich dabei ständig fragt, wie es seiner Familie geht, egal wo sie ist.

Wie wird sich dieser Mensch fühlen? Er fühlt sich fremd. Wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben. Denn fremd zu sein, ist für die meisten Syrer ein unbekanntes Gefühl, sie empfinden es als unerträglich und fast wie eine Strafe. Wir Deutsche können dem Fremdsein dagegen durchaus etwas abgewinnen – ganz gezielt gehen wir weit weg von zu Hause, um etwas Neues kennenzulernen, Spannendes zu erleben, andere Menschen zu treffen oder auch nur, um der heimischen Vertrautheit, die wir mitunter als „Muff“ bezeichnen, mal zu entkommen.

Die Verlockung der Nähe zu den Landsleuten

Wenn aber die deutsche Mehrheitsgesellschaft abweisend wirkt oder reagiert, wie sollen sich Zuwanderer dann integrieren? Selbst bei optimalen Bedingungen wie bei einer syrischen Familie im Berliner Prenzlauer Berg – der Mann Anwalt, die Frau ohne Kopftuch und zwei Kinder in der örtlichen Kita –, die umgeben ist von wohlgesinnten linksliberalen Bildungsbürgern, kommen kaum Kontakte zustande. Die Nachbarn grüßen alle freundlich, man wechselt ein paar Worte, aber Freundschaften entwickeln sich nicht. Mit wem soll die Mutter da ihr Deutsch üben?

Die Verlockung ist groß, sich mit anderen Syrern zu umgeben, um sich weniger einsam zu fühlen. So wie es Deutsche in Südamerika oder in den USA machen. Wir sprechen dann von Parallelgesellschaften, die Ängste auslösen, weil dort vieles anders ist. Tatsächlich sind Stadtteile, in denen bestimmte ethnische Gruppen leben, jedoch kein Problem an sich, sondern ein typisches Merkmal von Einwanderungsländern – denken wir nur an Chinatown, Little Italy und Little Germany in New York. Migranten suchen automatisch die Nähe von Landsleuten, die schon länger in der neuen Heimat leben, denn diese können ihnen mit Informationen, Tipps und Kontakten das Ankommen erleichtern und mit informellen Netzwerken bei der Job- und Wohnungssuche helfen.

Problematisch wird es nur, wenn die Segregation unfreiwillig erfolgt, wenn Zuwanderer also gezwungen sind, in bestimmten Vierteln zu wohnen, weil sie woanders keine Wohnung finden. Das müssen wir vermeiden, denn dann ist die Ghettoisierung nur eine Frage der Zeit, weil sie mit einer sozialen Abwärtsspirale einhergeht. Geflüchtete, die kaum Deutsch sprechen und keine Arbeit haben, ziehen in eine Gegend, die dadurch unattraktiver für andere wird. Deutsche Mittelstandsfamilien und erfolgreiche Migranten ziehen weg, die Kaufkraft sinkt, die Infrastruktur wird schlechter, das Viertel verwahrlost und die Kriminalität nimmt zu. In solchen erzwungenen Nachbarschaften wohnen am Ende vor allem nicht integrierte Zuwanderer und sozial schwache Deutsche.

Soziales Leben findet zu Hause statt

Der durchschnittliche Tag eines Jungen in Syrien besteht, neben Verpflichtungen wie Schule, Studium oder Jobben, aus spontanen Begegnungen, Kurzbesuchen und Verabredungen. Je nach Alter eine Runde Fußball auf der Straße, ein Glas Tee bei einem Cousin, Besorgungen für die Mutter, Mittagessen bei der Tante, im Laden des Vaters aushelfen, eine Runde Backgammon im Café und abends Fußballschauen und Kartenspielen mit Freunden.

Ein Mädchen verbringt mehr Zeit zu Hause, aber das bedeutet nicht, dass sie weniger Leute trifft – im Gegenteil, das soziale Leben findet gerade im ländlichen Syrien überwiegend in den Häusern und nicht an öffentlichen Orten wie Cafés oder Restaurants statt – ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen hier und dort.

Gastlichkeit und Privatsphäre

Hofhäuser, Villen und Wohnungen sind in Syrien deshalb in einen privaten und einen öffentlichen Bereich unterteilt. So können Gastlichkeit und gesellschaftliches Miteinander ausgiebig zelebriert werden, ohne dass diese die Privatsphäre der Familie stören. Jedes Heim – egal ob herrschaftlich oder ärmlich – verfügt über einen Raum, in den Besucher geführt werden. Manchmal ist es ein eigenes Zimmer, das ausschließlich dem Empfang von Gästen dient, manchmal ist es das größte von zwei oder drei Zimmern, das nachts zum Schlafen und tagsüber für alles Mögliche genutzt wird. Es ist immer aufgeräumt und empfangsbereit, mit Teppichen ausgelegt und mit vielen Sitzmöglichkeiten ausgestattet.

Niemals würde ein Gast in Syrien in den anderen Teil der Wohnung gehen, ohne ausdrücklich dazu aufgefordert zu werden. Die Privatsphäre ist für Syrer extrem wichtig, da Handlungen wie schlafen, sich an- oder umziehen, Körperpflege und anderes als intim gelten, also niemanden etwas angehen. Außerdem tragen Syrer zu Hause andere Kleidung als draußen. Sie laufen in bequemen Jogginghosen oder Pyjamas herum, die Männer im Sommer im Unterhemd, die Frauen oft ohne Kopftuch. So würden sie aber nicht auf die Straße gehen, deshalb wollen sie auch einem Gast so nicht begegnen.

Integration am Frühstückstisch

Die Tatsache, dass Syrer gesellige Menschen und nicht gern alleine sind, bedeutet folglich nicht, dass sie sich mit 200 Fremden in einer Turnhalle wohlfühlen. Der Verlust von Privatsphäre macht ihnen genauso zu schaffen, wie er uns treffen würde. Optimal wäre folglich eine frühzeitige Unterbringung in der Mitte der Gesellschaft. Ein Syrer in einer deutschen oder gemischten Studenten-WG kommt logischerweise viel schneller in Deutschland an als in einer Unterkunft mit Dutzenden anderen Geflüchteten. Sein Alltag wird zu einer einzigen Integrationsmaßname – vom Einkaufen bis zum Busfahren, vom gemeinsamen Kochen und Musikhören bis zum Putzplan, von der politischen Diskussion am Küchentisch bis zum Pauken deutscher Personalpronomen. Auch ein junger Mann, der zur Untermiete bei einem deutschen Rentnerpaar einzieht, lernt schnell Deutsch und nebenbei viel über regionale Gepflogenheiten und Traditionen.

Fälle, in denen Deutsche einen oder zwei Syrer bei sich unter dem Dach oder in einer kleinen Einliegerwohnung aufgenommen haben, sind meist Erfolgsgeschichten. Von „höflichen und hilfsbereiten“ jungen Männern ist da die Rede, die gerne mit anpacken – ob beim Tragen der Einkäufe, beim Rasenmähen oder Holzhacken. Aber davon lesen wir eher selten. Stattdessen dominieren Prügeleien und sexuelle Übergriffe in Massenunterkünften die Schlagzeilen. Schade, dass innerhalb einer Gruppe die wenigen Idioten immer mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Mehrheit der normalen oder netten Zeitgenossen.

Null Toleranz gegenüber Gewalt

Dabei ist klar: Parallel darf eine Gesellschaft  im juristischen Sinn nicht werden – deutsche Gesetze gelten überall, gegenüber Gewalt egal von welcher Seite muss null Toleranz herrschen. Gleichzeitig sollten Biodeutsche im Umgang mit Ausländern ihre Doppelmoral ablegen. Wenn hier lebende Franzosen, Spanier, Engländer und Japaner ihre Kinder zweisprachig erziehen, finden das alle toll, während albanische, arabische oder kurdische Mütter im Bus angegiftet werden, sie sollten mit ihren Kindern doch gefälligst deutsch sprechen.

Unabhängig von politischen Entscheidungen und von der Art der Unterbringung brauchen Geflüchtete aus Kollektivgesellschaften wie der syrischen vor allem eines: menschliche Wärme. Das klingt pathetisch, ist aber eher praktisch gemeint. Ein paar nette Worte im Hauseingang, ein Mitanpacken, ein freundliches „Kann ich helfen?“ bei offensichtlicher Desorientierung am Bahnhof oder im Supermarkt, ein kurzes Gespräch mit der syrischen Mutter beim Abholen der Kinder in der Kita oder ein gemeinsamer Grillabend mit den neuen Nachbarn im Hinterhof können Wunder wirken, mindestens aber den Alltag verschönern. Nicht nur den Alltag der anderen, sondern auch unseren.

Im Sommer 2016 erschien Kristin Helbergs Buch „Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land“, Herder Verlag, 272 Seiten, 24,99 Euro.

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