Steigende Anzahl von Ausgleichsmandaten - Das Klüngel-Parlament

In Zeiten einer immer weiter steigenden Parlamentarierzahl hat es sich der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert zur Aufgabe gemacht, gegen das unkontrollierte Wachsen von Ausgleichsmandaten anzugehen. Dafür muss man ihm danken

Kämpfer gegen ein aufgeblähtes Parlament: Norbert Lammert / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Neulich, im Restaurant des Bundestags: Ein direkt gewählter CDU-Abgeordneter empfiehlt mir, mal einen Blick ins schütter besetzte Plenum zu werfen. Ob mir die Zweier- und Dreiergrüppchen in den hinteren Sitzreihen auffielen. „Egal, was da vorne verhandelt wird“, sagte der Abgeordnete in einer Mischung aus Verachtung und Verzweiflung. „Es geht dort nur noch um eines: einen guten Platz auf der Liste.“

Die Liste, das ist die Lebensversicherung des mittelmäßigen Parlamentariers. Desjenigen, der einen der 299 Wahlkreise nie gewinnen würde, sondern nur über dieses Kungel- und Klüngelinstrument der Parteien seinen Sitz im Bundestag zu sichern vermag. Im Aufgalopp zur Bundestagswahl im Herbst werden zu Beginn des Jahres 2017 die Tickets für die Liste vergeben.

Ausgleichsmandate wachsen

Die Listenmandate sind ein Teil des Preises für unser gerechtes Verhältniswahlrecht. Das Mehrheitswahlrecht des britischen Parlaments zum Beispiel kennt sie nicht. Dort gilt: Wer den Wahlkreis gewinnt, zieht ein. Alle anderen gucken in die Röhre. Ein Prinzip, das für den prozentualen Proporz der Parteien entlang des Wahlergebnisses weniger fair ist. Ob jemand ganz knapp oder deutlich unterliegt, spielt keine Rolle. Die Fähigkeit der Abgeordneten fördert aber dieses System, denn sie müssen sich direkt gegen den anderen Kandidaten durchsetzen.

In Deutschland werden über die Listen am Ende die so genannten Ausgleichsmandate verteilt. Die Wild Cards für jene, die es nicht direkt ins Hauptfeld geschafft haben. Diese Ausgleichsmandate haben sich im Bundestag stark vermehrt, seit es dort mehr Parteien gibt. 630 Abgeordnete umfasst das aktuelle Parlament. 630 Volksvertreter für ein Volk von 80 Millionen. Zum Vergleich: Im Jahre 1972 waren es in Westdeutschland noch 496. Im Europaparlament, einer Volksvertretung von 500 Millionen Menschen, versammeln sich 751 Parlamentarier.

Bald 800 Bundestagsabgeordnete?

Der Bundestag steuert derweil weiter auf das Tausend zu. Wenn, wovon auszugehen ist, im nächsten Parlament sechs Parteien vertreten sein werden, müssen wir mit bis zu 800 Abgeordneten rechnen. Ein Volksvertreter kostet diejenigen, die er vertritt, im Jahr rund 300.000 Euro. Die repräsentative Demokratie sollte uns etwas wert sein, die Privilegien werden den Abgeordneten aus gutem Grund auf Zeit zur Verfügung gestellt. Und doch sei der Hinweis erlaubt.

Deshalb muss der Aufblähung dieses Apparats dringend Einhalt geboten werden, denn auch im Verhältniswahlrecht lassen sich die Ausgleichsmandate eindämmen. Zum Glück gibt es einen namhaften Kämpfer dafür. Der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert hat nicht nur der Versuchung widerstanden, sich als nützlicher Last-Minute-Kandidat der Kanzlerin für das von ihm einstmals angestrebte Amt des Bundespräsidenten missbrauchen zu lassen. Der Christdemokrat hat es sich ebenso zu einer seiner letzten Aufgaben gemacht, diesen immer weiter aufquellenden Bundestag einzudämmen und etwas gegen die scheinbar unaufhaltsame Inflation der Ausgleichsmandate zu tun.

Das Vermächtnis von Norbert Lammert

Dafür gebührt ihm jeder Respekt und alle Unterstützung der Anständigen unter den Parlamentariern. Denn selbst wenn sie vom Schutzreflex der Frösche betroffen sind, die ja auch nicht „Hurra“ schreien, wenn ihr Sumpf trockengelegt werden soll: Sie sollten sensibel dafür sein, dass sturer Egoismus zu einer weiteren Entfremdung des Parlamentarismus und der Politik von jenen führt, in deren Namen und für deren Interessen ihnen alle Privilegien des Parlamentariers eingeräumt wurden.    

Noch in dieser Legislaturperiode sollte das Vermächtnis des Norbert Lammert Gesetz werden. Damit dieses Stoppschild spätestens bei der darauffolgenden Bundestagswahl 2021 greift.

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels war statt von Ausgleichsmandaten von Überhangmandaten die Rede. Das war falsch. Wir bedanken uns für die zahlreichen Hinweise von Lesern und bitten wegen des Fehlers um Entschuldigung

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