SPD - Warum Martin Schulz der Richtige war und doch abstürzte

Der SPD-Chef macht schon wieder Wahlkampf, aber alle reden über seine entblößenden Bekenntnisse. Doch Schulz und die SPD haben vor der Bundestagswahl fatale strategische Fehler gemacht. Dabei war die Chance da, Kanzlerin Merkel zu stürzen

Mit der richtigen Strategie hätte Martin Schulz als Sieger aus der Wahl hervorgehen können / picture alliance
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Stefan Tillmann ist Chefredakteur und zweiter Geschäftsführer der Berliner Stadtmagazine tip Berlin und ZITTY. Gerade ist er in Elternzeit.

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Ist Martin Schulz als SPD-Parteichef noch tragbar? Das fragen sich viele nach der Wahlniederlage und noch mehr nach der großen Spiegel-Titelgeschichte, bei der Reporter Markus Feldenkirchen Schulz sehr lange begleitete. Die entscheidende Frage ist aber eine andere, und die bleibt weitestgehend unbeantwortet: Warum genau erfolgte im Bundestagswahlkampf dieser Absturz in den Umfragen? Schulz und sein Team wunderten sich erst über den Hype, dann über den Absturz. Schulz sagte im Spiegel: „Ich stehe vor einem Rätsel“,  und: „Wenn ich nur wüsste, was ich falsch gemacht habe?“ Es sind letztlich die entscheidenden Sätze, denn so ehrenwert es war, dass Schulz sich öffnete, so deutlich zeigt sich, dass er und sein Team überhaupt keine Strategie für den Wahlkampf hatten. Sonst wäre er womöglich der nächste Kanzler.

Denn: Der Hype kam zwar mit großer Wucht, ließ sich aber gut erklären. Schulz war der richtige SPD-Mann zur richtigen Zeit und der perfekte Gegenkandidat zur kühlen Machtpolitikerin Merkel. Es war die perfekte Erzählung:  Alkohol, Arbeit, Aufstieg. Ein Buchhändler ohne Abitur, ein Familienmensch aus der Mitte der Gesellschaft. Plötzlich waren sie alle wieder da, die die durchakademisierte SPD über die Jahre verloren hatte: die Krankenschwestern, die Handwerker, die Verkäufer. Plötzlich war da an der Spitze wieder einer von ihnen. Dass Schulz jahrelang Präsident des Europäischen Parlaments war, verlieh ihm obendrein etwas Staatsmännisches, etwas, was Sigmar Gabriel nie haben wird.

Die große Zufriedenheit

All das ist bekannt, und auch Markus Feldenkirchen schreibt das. Es wird aber gerne vergessen, und das ist das eigentlich Interessante, dass zu Beginn der Kandidatur auch die SPD in einer dankbaren Ausgangslage war. Sie hat sie nur überhaupt nicht genutzt. Die SPD hatte in der Großen Koalition einiges durchgesetzt, wesentliche Reformen wie den Mindestlohn und die Rente mit 63 – und diese bedienten die Kernwählerschaft. Am Ende der Legislaturperiode stand Deutschland wirtschaftlich gut da, auch dank der Union und der SPD.

Die CDU begnügte sich – verständlicherweise – mit der großen Zufriedenheit, ohne wirklich ihren Beitrag zum Erfolg erzählen zu können. Die SPD aber hätte wissen müssen, dass die objektiven Zahlen in Deutschland zwar gut waren, die Umfragen aber eine tiefe Verunsicherung zeigten. Sie hätte Themen aufgreifen können, die die Menschen beschäftigen und die vielfach ebenfalls klassische SPD-Themen sind: Die Menschen sorgen sich um den alternden Sozialstaat, haben Abstiegsängste, viele Städte veröden und vergreisen. Zuwanderung und neue Armut belasten vor allem einfache Stadtteile, und ganz allgemein wächst die Distanz zwischen Politik und Bevölkerung. Bei all diesen Themen hätte Schulz, der Newcomer, gegen Merkel punkten können, ohne die SPD zu vergraulen.

Das klassische SPD-Klientel nicht konkrekt angesprochen

Die SPD hätte sich als „Motor für ein besseres Deutschland“ stilisieren können, überhaupt hätte „Deutschland besser machen“ als Slogan sehr gut zu einem kleinen Koalitionspartner gepasst. Im Wahlkampf hätte man den Spruch entlang der SPD-Geschichte erzählen können: vom Frauenwahlrecht bis zum Mindestlohn. Und Schulz wäre der Mann aus der Mitte gewesen, der die nächsten Reformen vorantreibt, während Merkel nur wartet.

Stattdessen ernannte Schulz, der bewusst lange nicht konkret werden wollte, die fehlende Gerechtigkeit als zentrales Thema. Er erzählte die Geschichten von den bösen Managern und den armen Menschen am Fließband. Ein uraltes Thema, das nicht dadurch besser wird, dass die SPD schon seit Ewigkeiten an der Regierung ist. Vermutlich dachten die Strategen, mit diesem SPD-Kernthema nichts falsch machen zu können. Aber das taten sie. Sie trafen keinen Nerv. Zum einen stellt sich jeder etwas anderes unter Gerechtigkeit vor, zudem ist es offenbar einfach nicht das entscheidende Thema der zurzeit. Den Menschen geht es aktuell gut, sie machen sich aber Sorgen um die Zukunft.

Nachdem Schulz immer wieder daran erinnert wurde, dass es Deutschland ja doch hervorragend gehe, schwenkte er um. Wer weiß, ob dahinter ein Plan stand. Fortan räumte er quasi ein, dass Deutschland bestens dastehe, er bedankte sich bei den hart arbeitenden Menschen und mahnte, es könne Deutschland aber noch viel besser gehen. Es klang wie ein Lob an Angela Merkel mit dem Verweis, dass er es eventuell noch besser machen würde.

Öde Kampagne ohne Gespür für Themen

Dann, auch das lässt der Spiegel außen vor, kam die Werbekampagne. Und zwar mit Sprüchen, die man sich nicht merken konnte, und mit Themen, die nicht zwingend wirkten. Man denke an die Krankenschwester, die gewissermaßen der Fixpunkt der SPD sein sollte: harte Arbeit, wenig Geld, mitten im Leben. Und dann liest sie Zahlen über ein Gender-Pay-Gap, bei denen sie nicht wissen kann, ob sie stimmen, Forderungen nach kostenlosen Kitas auch für Besserverdiener oder nach einem Rückkehrrecht in Vollzeit, das viele gar nicht in Anspruch nehmen wollen.

Für den ungewöhnlichsten Kandidaten, den die SPD seit langem hatte, hatte sie nur die gewöhnlichste und ödeste Kampagne zu bieten. Es scheint tatsächlich keine Idee für eine Erzählung vorhanden gewesen zu sein. Oder kein Gespür für die Themen, die die Menschen bewegt. In einer Rede wollte Martin Schulz, so schreibt es der Spiegel, die Forderung nach „Vereinigten Staaten von Europa“ aussprechen, offenbar ohne zu wissen, dass man mit dieser akademischen Idee der Nullerjahre heutzutage nicht mehr punktet, erst recht nicht bei der besagten Krankenschwester. Und so taumelte Schulz durch den Wahlkampf, testete etwas wahllos Themen und schaute fatalistisch auf die Umfrageergebnisse, ohne eine stringente Strategie zu verfolgen. Das kann man nicht unbedingt nur ihm anlasten, aber am Ende ist der Spitzenkandidat auch für sein Team verantwortlich – und ist schlecht beraten, seine Berater verantwortlich zu machen.

Inge Schulz wäre sein Trumpf gewesen

Es ist aus SPD-Sicht ein Jammer, denn ein Trumpf lag die ganze Zeit zum Greifen nah: Schulz‘ Ehefrau Inge. Feldenkirchen beschreibt an mehreren Stellen, wie intensiv und auch liebenswert Schulz sich mit seiner Frau austauscht. Warum gab es keine große Homestory? War er es nach all den Berichten über seine frühere Alkoholsucht leid? Warum kennt man seine Kinder nicht? Weil er das nicht wollte? Vielleicht, aber wenn man Kanzler werden will, muss man eben auch Opfer bringen. Schulz brachte sein eigenes Opfer, indem er sich für die Spiegel-Story öffnete, allerdings unter der Bedingung, dass die Geschichte erst nach der Wahl veröffentlicht werden dürfe. Es ist aller Ehren wert, dass Schulz das mitgemacht hat. Er wird sich gedacht haben, dass er nicht viel zu verlieren hat: Verliert er die Wahl, ist es das Protokoll eines Kämpfers, gewinnt er, ist es eine Erfolgsgeschichte.

Aber warum wählte er die Sicherheitsvariante, die keinen Einfluss auf die Wahl haben würde? Warum nutzte er die Möglichkeit nicht noch offensiver? Schulz hätte im Wahlkampf mit voller Offenheit gegenüber der verschlossenen Merkel punkten können, wenn er den Spiegel  gleich komplett ins Boot genommen hätte: Spiegel TV, Spiegel Online plus Print. Jeden Tag live aus dem Wahlkampf, Politik hautnah, die Geschichte eines ganz normalen Menschen, der Bundeskanzler werden will. Das wären schließlich die Momente gewesen, in denen Schulz punktet. Es sind nicht die stillen, in denen er nachdenken muss oder auf Antworten seiner Berater wartet.

Dieser Text erschien auch im Opinion Club

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