SPD - Wenn eine Volkspartei nicht mehr gebraucht wird

Jenseits personeller Debatten hat sich die SPD schlicht überholt. Einer Partei, die vom Virus der Realitätsflucht angesteckt ist, laufen die Wähler davon. Die Erben stehen schon bereit. Von Alexander Kissler

Leere Sitzreihen beim politischen Aschermittwoch der SPD in Bayern / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Ist die SPD die Partei der selbstverschuldeten Unmündigkeit und des institutionalisierten Sadomasochismus? Ja, das ist sie auch. Wer die jüngsten Folgen der Untergangs-Telenovela verpasst hat, dem sei gesagt: Ein bereits in Brüssel minderqualifizierter Politiker gewann und verlor den Parteivorsitz binnen Jahresfrist, fiel in den Abgrund zwischen Größen-Ich und Kleintalent, die ausgekungelte Nachfolgerin musste ihren Putsch zur Macht vorerst abbrechen, wodurch ein betulicher Ministerpräsident nach vorne rückte, vorübergehend, denn nichts geht so schnell vorüber wie ein sozialdemokratisches Spitzenamt, was freilich den Lückenbüßer, Scholz mit Namen, nicht davon abhält, eine 17-prozentige Zustimmung in Umfragen vor Augen, bei den nächsten Bundestagswahlen die Mehrheit anzustreben. Lustiger wird’s nicht.

Das Original und die Kopien

Die Dauerkrise der Sozialdemokratie ist jedoch nicht nur einem Personal aus Bildungsflüchtlingen, Traumtänzern und Griesgramen geschuldet. Die Krise ist epidemisch, weil sie strukturell ist. Die SPD wird nicht mehr gebraucht – zumindest nicht unter diesem Namen. Wer sich für ein sozialdemokratisches Programm erwärmt, der kann eine noch einigermaßen große und ziemlich linke und deutlich stabilere Volkspartei wählen namens CDU. Wem deren Umverteilungspläne, deren Etatismus, deren Regulierungsgier zu schwach erscheinen, der greife zur Linkspartei und wird zuverlässig bedient. Besserverdienern bieten sich derweil die Grünen an – die Option Verzicht – und die FDP, die Option Genuss. Zur neuen Partei der Arbeiter und Senioren könnte sich derweil die rechte AfD mausern. Da braucht es Schulz, Scholz, Stegner und Nahles nicht. Faktisch nicht, praktisch nicht, theoretisch nicht. Diese SPD hat sich erschöpft.

Die chronische SPD-Erschöpfung hat psychische und virologische Gründe. Nach Jahren des Niedergangs (den letzten deutlichen Stimmenzuwachs bei einer Bundestagswahl gab es 1998) ist der Abwärtstrend fest verinnerlicht. Die SPD weiß, dass Wahlen und Niederlagen synonym sind, von kleinen Freudensprüngen auf kommunaler oder regionaler Ebene abgesehen. Das zehrt nicht nur am Nervenkostüm, das bildet es nachhaltig um: Wer ans Scheitern gewöhnt ist, der weiß nicht mehr, wie er Erfolge buchstabieren könnte. Dem fehlen realistische Einschätzungen und plausible Szenarien. Er wird kleinmütig oder großfahrend, herrschsüchtig oder wehleidig; die Seele kennt keine stabile Seitenlage mehr. Insofern war Martin Schulz ein authentischer Ausdruck seiner Partei.

Machtstütze für Merkel

Die Wirklichkeit hat es schwer, ins geschwächte Herz der alten Sozialdemokratie vorzudringen. Das Virus der Realitätsflucht dockt an. Man nehme nur das von einem SPD-Bürgermeister verwaltete Berlin. Dort mutet der Senat der Bevölkerung und damit auch der SPD-Klientel Erkenntnisse zu wie diese: „Nach dem Flüchtlingsbaurecht dürfen in den ersten drei Jahren ausschließlich geflüchtete Menschen in diesen Unterkünften wohnen.“

Gemeint sind „24 neue Flüchtlings-Siedlungen“, welche nun mit dem Steuergeld der Berlinerinnen und Berliner errichtet werden. Solche einschneidenden Maßnahmen und Mittelverwendungen werden bekanntgegeben, nicht erläutert. Weit und breit ist kein SPD-Politiker in Sicht, der die Erklärungsbedürftigkeit einer solchen Politik erkennt: Wer ist überhaupt ein Flüchtling? Warum gibt es für diesen Personenkreis ein eigenes Recht? Weshalb baut der Staat ihm Unterkünfte? Wer seine Wähler da allein lässt, steht bald allein da.

In einer Hinsicht wird sie natürlich gebraucht, die alte SPD: zum Machterhalt einer sozialdemokratischen Bundeskanzlerin mit Namen Angela Merkel. Wer meint, ein solches Brauchtum trage zu einem „besseren Land“ bei und stärke die „Wertetradition der Sozialdemokratie“, der träume nur weiter.

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