SPD - Die Leerstelle des Fortschritts

Sowohl bei der Europawahl als auch in Bremen musste die SPD herbe Niederlagen hinnehmen. Eigentlich wäre die Zeit wie gemacht für eine Rückkehr der Sozialdemokratie. Aber dafür bräuchte es einen neuen linken Realismus – und neue Köpfe

Wer wird der nächste Oskar Lafontaine in der SPD? / picture alliance
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Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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Wir leben in einer Gegenwart, die zur Utopie geworden ist. Denn die Angst davor, dass es nicht mehr vorangeht, sondern schlechter wird, ist allgegenwärtig. Der Status Quo wird zur Sehnsucht. Die Angst vor dem Abstieg ist größer als die Lust auf das Neue und Unbekannte.

Der Glaube daran, dass alles besser wird, ist weg. Links wie rechts wachsen extreme Kräfte. Politische Debatten und die Stimmung in den westlichen Demokratien werden zusehends ungemütlicher. Aber die politische Elite lässt sich davon nicht beirren. Sie ist immer noch beseelt von der Idee, dass alles schon seinen richtigen Weg nimmt. Daher dominiert dort eine Rhetorik des Ausredens der Sorgen und Ängste. Vor allem linksliberale Parteien haben sich auf eine Art Stimmungspolitik verlegt. Sie wollen Mut machen und dafür sensibilisieren, dass eigentlich alles doch gar nicht so schlecht sei, wie es scheint. Die grünen Parteien in Europa sind hierbei ein Nutznießer. Sie plakatieren zum Beispiel gerne „Mut“. Damit sind sie so etwas wie die Marktschreier eines postmodernen Sonnenscheinliberalismus: Alles ist doch ganz gut, und alles wird besser.

Auch die Grünen verkörpern keinen Aufbruch

Seltsamerweise wird die immer wieder beschworene Klimakatastrophe, die ja andeutet, dass gerade nicht alles gut ist, nur selten makroökonomisch adressiert. Stattdessen käme es vor allem auf den individuellen Lebenswandel an. Im Sinne von: Lebt alle richtig, dann wird alles gut. Auch in der Klimadebatte kann man die Ausprägungen eines Sonnenscheinliberalismus beobachten, der aber zunehmend mit Moralisierung – wie Lebenswandelaufrufen und politischen Erweckungsreden – einhergeht und damit so liberal gar nicht mehr ist. So sind selbst die scheinbaren grünen Mutmacher am Ende doch eigentlich eine ziemlich brave Partei. Einen wirklichen neuen Aufbruch verkörpern sie so jedenfalls nicht.

Das Versprechen der konservativen Parteien besteht hingegen darin, den Status Quo erhalten zu wollen. Damit unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von den Grünen. Denn auch die wollen ja die Welt erhalten wie sie ist. So können sich auch die konservativen Kräfte grün anpinseln und als progressiv gelten. Aber beide Lager erliegen der liberalen Illusion, dass der Status Quo ohne große Konflikte bestehen bleiben kann. Diese Gemütlichkeit schweißt sie zusammen und hätte mit einer Achse Angela Merkel und Katrin Göring-Eckardt auch politisch auswachsen können – wäre da nicht Christian Lindner gewesen.

Die taumelnde SPD

Was bleibt da für die Sozialdemokratie? Sie taumelt irgendwo sprachlos zwischen Bewahrung und Fortschrittsoptimismus. Heraus kommt dann nur ein zartes Lüftchen des Technokratismus. Die Sozialdemokratie ist eine Verwaltungspartei und ein behäbiger Regierungsautomat geworden. Damit ist sie den beiden christlich-konservativen Parteien mittlerweile ziemlich ähnlich geworden. Beide Parteifamilien betreiben einerseits im Grunde unterschiedliche Formen des Sozialkonservatismus – böse Zungen würden hier von Rentenpolitik für unterschiedliche Klientele reden – und forcieren andererseits finanzpolitische Bescheidenheit. Große Unterschiede gibt es eigentlich nur noch in der politischen Kommunikation nach außen.

Mit Kommunikation wird aber natürlich der Status Quo nicht aus den Angeln gehoben. Das ginge nur mit Reformen. Einen wahren Fortschritt wagt also keine der ehemaligen Volksparteien mehr. Denn dazu müsste man erst einmal anerkennen, dass es viele Risse in dem gemeinsam getragenen Weltbild gibt, dass im Großen und Ganzen eigentlich doch alles ganz gut sei. Jedoch: Ohne eine schonungslose Analyse der Realitäten findet man keine realistischen Wege und Antworten. Stattdessen beherrscht politische Romantik die Politik und weite Teile der veröffentlichten Meinung.

Deutschland und Europa droht das Abseits

So geraten aber nicht nur soziale Ungleichgewichte aus dem Blick, die 30 Jahre neoliberale Hegemonie mittlerweile erzeugt haben. Für Europa bedeuten diese Selbstzufriedenheit und Sorglosigkeit, dass der Kontinent und insbesondere Deutschland als seine größte Industrienation immer mehr ins Abseits geraten könnten. In der neuen geopolitischen Bipolarität der G2-Welt, in der China und die USA um die Vorherrschaft kämpfen, ist der europäische Kontinent mittlerweile nicht nur vom politischen, sondern auch vom wirtschaftlichen Abstieg bedroht. Der schludrige Umgang mit Zukunftstechnologien wie Künstlicher Intelligenz oder alternativen Antrieben und deren Wertschöpfungsketten verdeutlichen, dass Europa und insbesondere Deutschland offenbar den Anspruch an sich selbst aufgegeben haben.

Es gibt also berechtigte Sorgen darüber, dass der aktuelle Wohlstand Deutschlands und Europas nicht nur ungerecht verteilt ist, sondern man sich auch in Illusionen wiegt, dass dieser Wohlstand künftig weiterhin wie von unsichtbarer Hand vom Himmel fallen wird. Eigentlich wäre diese Zeit wie gemacht, für eine sozialdemokratische Formation, die politische Ökonomie zu ihrem Fixpunkt macht, große sozial- und wirtschaftspolitische Reformen anschiebt und somit von Umverteilung bis kluger Industriepolitik im klassischen sozialdemokratischen Sinne „Ordnungspolitik“ betreibt. Im guten Sinne also technischen und sozialen Fortschritt miteinander produktiv verbindet.

Die Grünen sind kaum mehr als PR-Manager der Politik

Aber die Sozialdemokratie ist dazu heute kaum in der Lage. Sie könnte die Leerstelle des Fortschritts herausragend besetzen. Aber sie tut es nicht. Deswegen bleibt die Leerstelle des Fortschritts gänzlich unbesetzt. Denn auch die grünen Parteien können es nicht. Selbst unter der Realo-Führung von Robert Habeck und Annalena Baerbock wird es ihnen kaum gelingen, von einer wesentlich diskurspolitischen Formation zu einer reformorientierten Kraft zu wachsen. Es braucht für diese Einsicht nur ein kurzes Rückerinnern daran, wer unter der rot-grünen Regierung eigentlich den Atom-Ausstieg organisiert hat: Es waren nicht die Grünen.

Die Grünen sind gute PR-Manager der Politik. Sie haben die Fähigkeit zur Zuspitzung und zum ökologischen Agenda-Setting. Dabei werden sie auch weitestgehend wohlwollend von linksliberalen Medien begleitet. Aber sobald es zu Reformen kommen muss, und diese stehen vor der Tür, werden sich die Grünen als politische Kraft des Zauderns und der organisatorischen Amateurhaftigkeit erweisen. Allenfalls dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann wäre in einer Koalition der linken Mitte noch zuzutrauen, das Ruder zu führen. Aber auch dies würde nur gelingen durch eine exekutive Unterstützung versierter Sozialdemokraten in Arbeitsministerium, Wirtschaftsministerium und Finanzministerium. Besser noch, natürlich, im Kanzleramt.

Wo sind die neuen Lafontaines und Schilys?

Deswegen brauchen wir eine Reformlinke. Eine politische Kraft eines linken Realismus, die ihr politisches Handwerk versteht und die Fähigkeit besitzt, die wesentlichen verbändeorganisierten Stakeholder des Landes – von Gewerkschaften bis BDI und Bitkom – für eine Reformagenda mitzunehmen. Die weiß, dass Reformen harter Aufwand sind, mit unvermeidbaren Konflikten, dass es dann auch einmal krachen und wehtun kann. Die aber trotzdem in der Lage ist, Sicherheit im Wandel zu versprechen und zu organisieren. Es ist eigentlich die Zeit zur Rückkehr der Sozialdemokratie.

Leider ist die aktuelle SPD weder durch ihre Führung noch durch die Organisation der Parteizentrale gerade befähigt, die für sie nötige radikale Erneuerung zu bewältigen. Deswegen braucht die SPD neue Köpfe vom Schlage eines Oskar Lafontaine, eines Peter Glotz, eines Otto Schily und eines Sigmar Gabriel. Tatsächlich gibt es junge Lafontaines und Schilys in der SPD. Die Parteiführung muss sie nur endlich in die breite Öffentlichkeit hieven.

Die Parteizentrale müsste zudem radikal entkernt und erneuert werden, um wieder arbeitsfähig zu werden. Momentan ist sie einfach kaputt. Zudem muss es gelingen kluge Ökonomen im Land für die SPD einzuspannen und mit ihnen in einem gemeinsamen Akt Reformen zu entwerfen. Aber ohne Führung wird das nicht gelingen. Wie schon Helmut Schmidt wusste: „Auch Demokratie braucht Führung.“ Die SPD braucht jetzt mehr linke Realisten auf oberster Ebene. Es geht nun um das Überleben der SPD. Das muss die Partei nun begreifen.

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