Sozialarbeiter über Flüchtlinge - „Jetzt treten die wahren Probleme hervor“

Vor einem Jahr begann das, was im Nachhinein als Flüchtlingswelle bezeichnet wurde. Der Sozialarbeiter Marcel Deiß erzählt, was er in jener Zeit in einer Notunterkunft in Berlin erlebt hat und was er sich für die Zukunft wünscht

Marcel Deiß: „Ich habe oft das Gefühl, dass nur Zahlen gesehen werden.“ / Jörg Brüggemann
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Ich bin seit November 2015 Sozialarbeiter in einer Notunterkunft. In unserer Turnhalle leben 200 geflüchtete Männer. Das klingt viel, ist aber für Berlin relativ wenig.

Die Aufgaben haben sich mit der Zeit sehr gewandelt. Im November war es wichtig, erstmal eine Struktur zu schaffen. Damals sind alle Menschen, die bei uns ankamen, direkt von der Flucht gekommen. Die meisten befanden sich in einem unheimlich schlechten Zustand, physisch wie psychisch. Da lag das Hauptaugenmerk darauf, die Leute erstmal wieder zu stabilisieren, sie gesund zu kriegen und die Grundversorgung zu gewährleisten.

„Lethargie breitet sich aus“

Jetzt, wo niemand mehr direkt von der Flucht kommt, sind die Themen ganz andere. Es geht viel mehr um den Aufenthaltsstatus, um rechtliche Fragen. Und es ist auch so: Je länger die Menschen in solchen Massenunterkünften leben, desto mehr treten die wahren Probleme hervor.

Eine gewisse Lethargie breitet sich aus. Dann gibt es manche, die Furchtbares erlebt haben und versuchen, das mit Alkohol zu betäuben. In seltenen Fällen äußert sich das auch in Aggressionen, meistens sich selbst gegenüber. Mit selbstverletzendem Verhalten werden wir immer wieder konfrontiert.

Es sind zum Teil wirklich langjährige und tiefliegende Geschichten, die so einfach nicht zu bearbeiten sind. Das braucht viel Zeit und Ruhe, und die hat man nicht in einer Unterkunft, in der es praktisch keine Privatsphäre gibt. Die hat man auch nicht, wenn man von Familie und Freunden getrennt ist und einen unsicheren Aufenthaltsstatus hat.

„Wir sind richtig zusammengewachsen“

Für viele war es auch ganz schlimm, als die Grenzen in Europa geschlossen wurden. Das gab einen riesen Einbruch in der Gesamtstimmung. Viele wollten ihre Familien nachholen und hatten die Hoffnung, dass sie das tun können, wenn der Aufenthalt geklärt ist. Weil eben so eine Reise, wie sie es erlebt haben, zu gefährlich für kleine Kinder oder eine schwangere Frau ist.

Es gibt aber auch unheimlich viele schöne Momente. Wir sind in den neun Monaten richtig zusammengewachsen. Sehr schöne Erlebnisse hatten wir gerade auch in der Weihnachtszeit. Da wurde zum Beispiel ein Bewohner mit Weihnachtsgeschenken zu uns geschickt. Er hat sich im Namen aller bei uns dafür bedankt, dass wir so viel da sind und uns kümmern. Das war schon umwerfend.

Meine Hoffnung ist, dass die Menschen, die zu uns kommen, auch als Menschen gesehen werden. Mit einer Geschichte, einer Familie, mit Ängsten, Hoffnungen, Träumen und Sorgen. Ich habe oft das Gefühl, dass nur Zahlen gesehen werden. Und ich würde mir wünschen, dass Menschen ihre Berührungsängste eintauschen gegen berührende Momente.

Protokoll: Lena Guntenhöner.

 

In der September-Ausgabe des Cicero schildern Flüchtlinge, Helfer, ein Landrat aus Passau, eine Kioskfrau von der österreichischen Grenze, die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo ihre Eindrücke und Lehren aus dem Jahr seit der Grenzöffnung. Das Magazin erhalten Sie ab sofort am Kiosk oder in unserem Online-Shop.

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