Digitalisierung in Schulen - Ein Königreich für eine Brieftaube

Die Digitalisierung in den Schulen kommt nicht voran. Rechtzeitig vor einer zweiten Schulschließung haben Bund und Länder bei einem Schulgipfel beschlossen, jedem Lehrer einen Dienst-Laptop zur Verfügung zu stellen. Eltern kann das nicht beruhigen. Der besorgte Einwurf einer betroffenen Mutter.

Sorglos in eine zweite Schulschließung? Die Gewerkschaft GEW schlägt Alarm / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Hast Du schon gehört, fragt mein Sohn. „Lehrer sollen jetzt Laptops bekommen“. Ich muss mich vor Schreck erstmal setzen. Dass ich das noch erleben darf. 2020 soll als das Jahr in die Geschichte eingehen, das den Übergang von der Kreidezeit ins digitale Zeitalter markiert. So jedenfalls suggeriert es eine illustre Runde, die Angela Merkel gerade zum Schulgipfel ins Kanzleramt geladen hatte. SPD-Chefin Saskia Esken war da, die Kultusminister der Länder und eine Frau, deren Namen man sich vielleicht noch merken wird, bevor ihre Amtszeit 2021 zu Ende geht: Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU).  

Lange standen die Länder mit dem Fuß auf der Bremse, wenn es um die Digitalisierung der Schulen ging. Jetzt steigen die Infektionszahlen wieder an, und die Bundesregierung mahnt zur Eile. Schulen sollen eigene Administratoren bekommen. In digitalen Kompetenzzentren sollen Lehrer lernen, wie man mit dem Laptop statt mit der Tafel unterrichtet. 500 Millionen Euro streckt der Bund dafür aus dem 750 Milliarden Euro schweren EU-Aufbaufond vor. 

Zwei Stunden Unterricht pro Woche  

Alles klar für eine zweite Schulschließung? Diese Botschaft geht vom Schulgipfel aus. Aber kann Eltern das wirklich beruhigen? Ich erinnere mich noch mit Schrecken an den ersten Lockdown. Zwei Stunden Unterricht, mehr war für meinen Sohn, 16, an einer Gesamtschule in Berlin nicht drin. Pro Woche wohlgemerkt, nicht pro Tag.

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So etwas nennt man Homeschooling. Das klingt dynamischer als das, was es eigentlich ist: Herumgammeling. 16-jährige Teenager, die den ganzen Tag abhängen und die Horizontale nur verlassen, wenn plötzlich wie aus dem Nichts eine Email von einem Lehrer auf ihrem Handy aufploppt. Ein Aufgabenzettel, als PDF verschickt. Wer hätte gedacht, dass sich die Kids darüber einmal freuen würden? 

Aufgabenzettel als PDF 

Nur ein einziges Mal hörte ich auch eine mir unbekannte Stimme aus dem Kinderzimmer. Es war ein junger Biolehrer, der eine Sprachnachricht verschickt hatte, um meinem Sohn ein Feedback auf seine Hausarbeit zu geben. „Gut gemacht.“

Sieht so das digitale Klassenzimmer der Zukunft aus? Gut, die Schule meines Sohnes ist nicht der Regelfall. Auch in Berlin gibt es Schulen, die schnell auf die Pandemie im Lockdown reagiert haben. Unterricht per Video-Konferenz, die Softwares „Teams“ oder „Zoom“ machen es möglich. Um zu lernen, wie das geht, müssen Lehrer nicht mal eine Fortbildung besuchen. Es gibt genug Tutorials bei YouTube. 

Durch den Lockdown durchgewurschtelt 

Aber Mühe allein genügt nicht, eine engagierte Schulleitung und ambitionierte Lehrer genügen leider auch nicht. Das ist die bittere Lektion des ersten Lockdowns. Die meisten Schulen haben sich mehr schlecht als recht durchgewurschtelt. Die Leidtragenden waren die Eltern. Ich kann noch froh sein, dass mein Sohn mit 16 alt genug war, um sich allein zu beschäftigen. Mütter und Väter jüngerer Kinder mussten auch noch eine Betreuung organisieren und den Lehrer ersetzen. Dass ein Drittel der Kinder kaum oder nur schlecht mit einem PC umgehen können, weil sie zum Teil gar kein Endgerät haben, ist da noch das kleinste Problem. 

Erstaunen kann das niemanden. Denn dass die Schulen bei der Digitalisierung meilenweit hinterherhinken, ist strukturell bedingt. Daran hat auch der „Digitalpakt Schule“ nichts geändert, mit dem sich Bund und Länder 2019 aus der Kreidezeit ins Zeitalter Web 2.0 katapultieren wollten. Es sollte ein Befreiungsschlag sein.

Föderaler Sackgang  

Das Ergebnis ist ein Witz. Von den 5 Milliarden Euro, die bereitgestellt wurden für Wlan, Server und neue Hardware, sind bis heute gerade mal 150 Millionen Euro abgerufen worden – und das auch nur von sieben Bundesländern. Bildung ist Ländersache. Das macht die Sache so schwierig. Um den Digitalpakt einführen zu können, musste erstmal das Grundgesetz geändert werden. 

Damit fing der föderale Sackgang aber erst an. Beantragt werden muss die Ausstattung von den Kommunen. Dafür bedarf es aber Förderrichtlinien. Und die muss jedes Land selbst erlassen. Und die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Das wurde den Schulen im ersten Lockdown zum Verhängnis. Wie sollen sie digital unterrichten, wenn die Grundausstattung fehlt?  

Wer hat Angst vor Bill Gates?

In der Haut der Schulleiter möchte man nicht stecken. Denn nicht nur die Bürokratie macht ihnen das Leben schwer. Hinzu kommen die Eltern. An der Schule meines Sohnes war es ausgerechnet die Gesamtelternvertretung, die verhinderte, dass der Lehrstoff zumindest teilweise digital vermittelt werden konnte. 

Die Software Teams, eine Anwendung von Microsoft, sei nicht datensicher, lautete der Einwand. Der Name Bill Gates geisterte durch den Raum. Doch so besorgt, wie die Kritiker guckten, hätte es auch Lord Voldemart sein können. Ich wollte es nicht glauben. Es gibt Eltern, denen der Schutz vor vermeintlichen Datenlecks wichtiger ist als die Lernfortschritte ihrer Kinder. Wen aber sollte es interessieren, ob Luise aus der 10 B in Mathe Probleme mit Bruchungleichungen hat oder Ben mit den englischen Modalverben can und could? 

Dienst-Laptops für 800.000 Lehrer 

Dienst-Laptops für Lehrer, wie sie der Schulgipfel jetzt beschlossen hat, sind da also nur das kleinste Hindernis auf dem Weg zum digitalen Klassenzimmer. Und findige Schulleiter haben schon ausgerechnet, dass die 500 Millionen Euro für 800.000 Lehrer gar nicht ausreichen. Mal davon abgesehen, dass sie die Geräte nicht selbst bestellen können. Sie werden zentral geliefert. Und schon heute gibt es Engpässe. 

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht von „systemischem Versagen“. Man rechne nicht damit, dass die beschlossenen Maßnahmen schon greifen würden, wenn die Infektionszahlen weiter ansteigen, sagte die Vorsitzende Marlis Tepe. Experten gehen davon aus, dass es tatsächlich noch mindestens bis 2023 dauern wird. Für diesen Herbst sollten sich Eltern und Schüler schon mal darauf einstellen, ihre Aufgabenzettel am Schulfenster abzuholen. Analog. 

Auf die digitale Revolution müssen wir also noch ein bisschen warten. Ein Königreich für eine Brieftaube! 

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