Sachsen-Anhalt-Wahl bei „Anne Will“ - Versteht jemand die Ossis?

Sachsen-Anhalt hat gewählt, und das Ergebnis schlägt sogar die ewigen Corona-Themen. Eine stark besetzte Runde in der Talkshow von Anne Will begab sich deshalb auf die Suche nach Erklärungen für das offenbar seltsame Eigenleben der Ureinwohner in den sogenannten neuen Ländern. Veränderungen mag diese Spezies jedenfalls gar nicht.

Robert Habeck bei Anne Will / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Nach mehr als einem Jahr sonntagsabendlicher Corona-Talkshows bei „Anne Will“ sind Redaktion und Moderatorin die anderen Themen ganz offenbar ein bisschen aus dem Blick und aus der Übung geraten. Es bedurfte diesmal schon einer Landtagswahl, um aus dem üblichen Pandemie-Schema auszubrechen, doch scheint die Erfahrung mit derart profanen Themen verloren gegangen zu sein. Irgendwie redeten alle aneinander vorbei, es gab keine Struktur, keine Gesprächsführung. Am Ende der Runde war man dann unversehens bei der Klimapolitik angekommen, nachdem zuvor noch der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz abgehandelt worden war.

Dabei klang die Teilnehmerliste sogar recht vielversprechend: Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), Sahra Wagenknecht von der Linken, der AfD-Covorsitzende Tino Chrupalla, Grünen-Chef Robert Habeck sowie Nadine Lindner vom Deutschlandradio. Besondere Erkenntnisse förderte die Runde dennoch nicht zutage, von ein paar interessanten Auseinandersetzungen abgesehen.

In gewisser Weise stilprägend war da schon der Auftakt, als Anne Will von Bouffier wissen wolle, ob das Erfolgsgeheimnis seines Parteifreundes, Ministerpräsidentenkollegen und heutigen Wahlsiegers in Sachsen-Anhalt womöglich mit dessen Authentizität zu erklären sei. Anders gefragt: Ob Reiner Haseloff vielleicht deswegen so erfolgreich ist, weil er einerseits klare Kante gegenüber der AfD zeigt, andererseits aber auch unverdruckst den Mut zu konservativen Positionen aufbringt. Bouffiers Antwort bestand in Glückwünschen in Richtung Magdeburg. Ende der Durchsage, eine Nachfrage gab es nicht.

Demokratieferne Ossis

Danach war Habeck an der Reihe. Ob die Grünen in Sachsen-Anhalt auch deswegen so mau abgeschnitten haben, weil laut einer Erhebung 70 Prozent der Befragten zu Protokoll gegeben hätten, die Partei würde es mit dem Umweltschutz „übertreiben“? Darauf der Grünen-Vorsitzende: Solche Themen würden nicht überall im Land gleichermaßen gut funktionieren, die Stimmung sei nunmal gerade im Osten anders als im Westen. Wahrlich keine neue Erkenntnis, aber eine gute Gelegenheit, um zu besagtem Ost-Beauftragten Wanderwitz überzuleiten: jenem sächsischen CDU-Parlamentarier also, der bei seinen Landsleuten ein strukturelles Demokratiedefizit aufgrund Diktatur-Sozialisiertheit in der DDR ausgemacht haben will. Habeck schien Wanderwitz irgendwie recht geben zu wollen, nannte dessen Analyse dann aber doch „fatal“, weil man diese seltsam verhaltensauffälligen Ossis vielleicht doch nicht samt und sonders verloren geben sollte.

Der AfD-Bundessprecher Chrupalla, demnach ebenfalls ein unverbesserlicher Ost-Eingeborener, wurde von Will gefragt, warum seine Partei in Sachsen-Anhalt nicht auf Distanz zu rechtsradikalen Positionen gehe. Auch er durfte sich mit ein paar belanglosen Sätzen herausreden nach dem Motto: Von rechtsradikal könne keine Rede sein, man solle sich lieber um die Probleme der Bürger kümmern, und überhaupt sei die AfD die einzige Oppositionspartei im Bundestag. Kurzum: Im Osten nichts Neues, und die Einlassungen des AfD-Chefs waren ungefähr so elektrisierend wie ein defekter Haarfön. Was seiner Partei nicht nachhaltig zu schaden scheint, aber eben auch der Grund für das leicht unter Niveau der Vorwahl gebliebene AfD-Ergebnis von diesem Sonntag sein könnte. Die Luft ist jedenfalls spürbar raus.

Sahra Wagenknecht wiederum wollte die Sache mit der angeblich einzigen Oppositionspartei nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen und warf Chrupalla vor, die AfD sei gerade in sozialen Fragen ein „Totalausfall“. Worauf Will wissen wollte, warum dann eigentlich die Linke bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt so desaströs an Zustimmung verloren habe. Die Antwort: Das habe einerseits am negativen Bundestrend gelegen. Andererseits daran, dass „das Label links nicht mehr für soziale Gerechtigkeit steht, sondern für Selbstgerechtigkeit“. Mit Debatten über Gendern und Identitätspolitik laufe man thematisch eben an den Bedürfnissen insbesondere der weniger privilegierten Menschen vorbei. So lautet Wagenknechts Credo schon seit längerer Zeit, und die Wahlergebnisse scheinen sie zu bestätigen.

Der talentierte Herr Wanderwitz

Dann wurde abermals der Fall Wanderwitz aufgerollt, über den Volker Bouffier behauptete, es handele sich um einen „talentierten Politiker“, dessen Meinung er in Sachen demokratieresistente Ossis aber nicht teile. Wobei man sich fragen kann, worin eigentlich das Talent eines „Ostbeauftragten“ besteht, wenn er kurz vor einer Wahl nicht nur seinen Landsleuten, sondern noch dazu seinen eigenen Parteifreunden ein derartiges Ei ins Nest legt. Bouffier konnte dieses Rätsel jedenfalls auch nicht auflösen.

Ein bedenkenswerter Einwurf Wagenknechts zur Wanderwitz-These von wegen diktatursozialisierte Ostbürger, die aufgrund ihrer Herkunft angeblich auf Kriegsfuß mit der Demokratie stehen: Auch in Ländern ohne Erfahrungen mit diktatorischen Regimes hätten rechte Parteien seit einigen Jahren Aufwind, beispielsweise in Frankreich. Ob das nicht also doch eher eine Reaktion vieler (nichtprivilegierter) Menschen auf „Angriffe auf die Lebensrealität“ seitens einer sich selbst als progressiv verstehenden Politik sei?

Der AfD-Mann Chrupalla jedenfalls wurde dem Image des renitenten Wut-Ossis ganz und gar gerecht, indem er die Notwendigkeit eines Ost-Beauftragten in Frage stellte (das sei „betreutes Denken für Ossis“) und stattdessen einen „West-Beauftragten“ forderte, der beispielsweise dem aus östlicher Sicht unerklärlichen Erfolg der Grünen in den alten Bundesländern qua Amt auf den Grund gehen könne. Früher hätte man solche originellen Ideen bestimmt in der Harald-Schmidt-Show in Szene gesetzt. Heute braucht es dafür einen schlechtgelaunten Herrn Chrupalla. Schön ist das nicht.

„Angst vor Veränderung“

Womit wir dann thematisch auch in die Zielgerade einbiegen können, die der Nichtkanzlerkandidat der Grünen, Robert Habeck, mit der Erkenntnis bestritt, dass es die „Angst vor Veränderung“ sei, die viele Menschen zur AfD treibe. Und weil viele Ossis bereits einen Systemwechsel erlebt hätten und auf den nächsten Umbruch (diesmal wegen der „Klima-Krise“ und globaler Mobilität) wohl lieber verzichten würden, wählten sie halt eine Anti-Klima- und Anti-Migration-Partei wie die AfD. Was aber am Ende auch nichts helfen wird, wie Habeck festhielt: „Wir werden Veränderungen durchleben“, allerdings müssten die entsprechenden Begründungen „besser moderiert“ werden.

Ein schönes Schlusswort. Die Sache mit der besseren Moderation hätte allerdings auch als Aufforderung an Anne Will verstanden werden können. Aber wie gesagt: Mehr als ein Jahr im Corona-Modus, das hinterlässt schon ein paar Schleifspuren.

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