Referendum über Verfassungsreform - Noch ist die Türkei nicht verloren

Präsident Erdogan betreibt eine Veröstlichung der Türkei. Die knappe Mehrheit für ein Ja zu seinen Plänen zeigt, dass viele Landsleute ihm folgen, verdeutlicht aber auch die Spaltung des Landes. Sorgen macht das Abstimmungs-Verhalten der in Deutschland lebenden Türken

Pro-Erdogan-Demo in Köln: Obstruktion von Integration / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Hat der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko nun sein Alleinstellungsmerkmal als „letzter Diktator Europas“ verloren? Wenn man gewillt ist, die Türkei an einem Europa zu messen, das sich nicht nur über die Geografie, sondern auch über einen gewissen Wertekonsens mit demokratischen Institutionen wie Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit oder einer unabhängigen Gerichtsbarkeit definiert, dann bleibt Lukaschenkos Land auch weiterhin ziemlich einsam. Denn eine (wenn auch knappe) Mehrheit der türkischen Wahlberechtigten will ihren Präsidenten mit einer Machtfülle ausstatten, die nicht zum europäischen Grundverständnis über die Gesellschaftsordnung passt. Europas Außengrenzen (und nicht nur jene der EU) würden somit in Griechenland und Bulgarien enden.

Erdogan rückt Türkei von Europa weg

Tatsächlich hat Erdogan, der sich jetzt als großer Sieger aufspielt, in den vergangenen Monaten alles dafür getan, sein Land von Europa wegzurücken. Er sieht sich einen entscheidenden Schritt näher an seinem Lebensziel eines Neo-Osmanischen Reichs, das als Ordnungskraft im zerfallenden Nahen Osten die Führungsrolle übernimmt, und zwar mit einer klaren religiösen Mission auf Grundlage des sunnitischen Islam.

Das Referenzmodell wäre demnach genau nicht mehr die Europäische Union, sondern der immer mächtiger werdende Iran als Schutzmacht der schiitischen Welt. Erdogans religiös durchwirkter Nationalismus bedeutet eine klare Veröstlichung der Türkei, viele seiner Landsleute sind ihm dabei gefolgt.

Kein fairer Wahlkampf

Aber viele eben auch nicht. Nach derzeitigem Stand hat nur eine sehr knappe Mehrheit für das Verfassungsreferendum gestimmt – wenn überhaupt, denn die Berichte über Wahlmanipulationen nehmen zu. Auch wurde der Wahlkampf in der Türkei alles andere als mit fairen Mitteln bestritten; allein die schiere Präsenz der Pro-Erdogan-Propaganda im öffentlichen Raum spricht Bände. Nicht zuletzt hat der – möglicherweise inszenierte – Versuch eines Militärputschs im vergangenen Sommer Spuren bei der Bevölkerung hinterlassen nach dem Motto: Lieber einen starken Führer als chaotische Zustände. Die zum inneren Feind erklärte Gülen-Bewegung hat dieses Gefühl nur bestärkt.

Die Provinz setzt sich durch

Und dennoch ist das Ergebnis so knapp ausgefallen, wie es nun ausgefallen ist. Die moderne Türkei war schon immer ein gespaltenes Land, wobei die Linien insbesondere zwischen den großstädtischen Eliten und der Landbevölkerung verliefen. Mit Erdogan hat sich gewissermaßen die Provinz durchgesetzt (übrigens ähnlich wie bei den Trump-Unterstützern in den Vereinigten Staaten). In den türkischen Wirtschaftsmetropolen schätzt man hingegen sehr wohl die Vorzüge einer westlichen Lebensart und weiß vor allem um die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den europäischen Nachbarn. Das gilt auch für die Küstenregionen an der türkischen Ägäis mit ihrer Tourismusindustrie. Dort behielt das Nein-Lager die Überhand.

Angesichts dieser überaus knappen und noch dazu mit unfairen Mitteln herbeigeführten Entscheidung wäre es ein Fehler, die Türkei als ein europäisches Land verloren zu geben. Denn es handelt sich immer noch um einen teilweise hochmodernen Staat mit nach wie vor hervorragenden Bildungseinrichtungen und einer Bevölkerung, von der die Hälfte explizit kein Interesse hat an einem chauvinistisch-religiösen Nationalstaat Erdogan‘scher Prägung. Diese Menschen brauchen eine Perspektive, auch wenn das in diesem Moment naiv klingen mag angesichts der Großtuerei ihres künftigen Alleinherrschers.

Die in Deutschland lebenden Türken bereiten Sorgen

Sorgen bereitet das Abstimmungsverhalten der in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken oder Doppelstaatler. Wenn knapp zwei Drittel derer, die sich an der Wahl beteiligt haben, ihr Heil bei Erdogan sehen, dann hat das noch eine andere Dimension als in der Türkei selbst. Denn nach den Provokationen und grotesken Nazi-Vergleichen, die sich Erdogans Leute gegenüber deutschen Politikern erlaubt haben, kann die Botschaft nur sein: Wer hier mit „Ja“ gestimmt hat, dem ging es weniger um ein Verfassungsreferendum. Sondern darum, seine Solidarität mit einem türkischen Staatsoberhaupt zu bekunden, das einen klaren Konfrontationskurs mit der Bundesrepublik sucht. Von mangelnder Integrationsbereitschaft kann da schon gar keine Rede mehr sein. Das ist Obstruktion.

Und somit hat Erdogan auch sein zweites Ziel erreicht. Nämlich der deutschen Bundesregierung zu demonstrieren, über welche Machtbasis er in Deutschland verfügt. Wer gestern Abend mit angesehen hat, wie etwa in Berlin enthemmte und euphorische Erdogan-Fans in Autokorsos über die Straßen fuhren, um ihren Helden zu feiern, der dürfte sich schon die eine oder andere Frage stellen. Es entsprach jedenfalls mitnichten dem Bild, das multikulti-verliebte deutsche Beschwichtigungspolitiker so gern von unserer bunten Republik zeichnen. Natürlich wird Erdogan jetzt erst einmal wieder rhetorisch abrüsten. Aber ein paar seiner Sätze bleiben hängen. Zum Beispiel die Drohung, dass sich kein Europäer mehr in irgendeinem Teil der Welt sicher auf den Straßen bewegen könne. Nach den Szenen von gestern Abend ahnt man, was er gemeint hat.

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