Referendum in der Türkei - „Dieses System eines Despoten müssen wir Kurden boykottieren“

Die Türkei hat sich mit knapper Mehrheit für die von Präsident Erdogan propagierte Verfassungsänderung entschieden. Die meisten Kurden haben wohl mit „Nein“ gestimmt, auch die, die in Deutschland leben. Warum, das haben uns zwei von ihnen erzählt

Die rund 15 bis 20 Millionen stimmberechtigen Kurden stellen circa ein Viertel der türkischen Gesamtbevölkerung / picture alliance
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Lena Baseler hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert.

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Julia Mirkin studiert Philosophie und Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Sie arbeitet für Cicero Online.

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Fragt man *Azad, woher er stammt, dann hat er eine kurze und eine lange Antwort. Die kurze lautet: „Ich bin Kurde.“ Die lange in etwa so: Er ist in Hessen geboren, lebt aber seit seinem zwölften Lebensjahr in Berlin. Er hat einen deutschen Pass, seine Eltern sind in der Türkei geboren. Sie sind kurdische Aleviten und stammen ursprünglich aus der Provinz Tunceli im Osten Anatoliens.

Azad macht eine Ausbildung zum Erzieher, danach will er studieren. Ab und zu hilft er im Kiosk seines Vaters im gentrifizierten Stadtteil Prenzlauer Berg aus. Sein Vater hat im Gegensatz zu ihm die türkische Staatsbürgerschaft und im Konsulat abgestimmt. „Ich kenne eigentlich niemanden in meinem Umfeld, der mit ‚Evet‘ abgestimmt hat. Alle sind für ‚Hayir‘“, erzählt der Sohn. Hayir – das heißt auf Deutsch „Nein“. Nein zu einer Verfassungsänderung, nein zum Präsidialsystem, nein zu Erdogan.

Kurden in Deutschland als Zünglein an der Waage 

Die Verfassungsänderung soll Präsident Recep Tayyip Erdogan umfassende Machtbefugnisse zusichern. Am Sonntag stimmen die Menschen in der Türkei ab, die etwa 1,4 Millionen in Deutschland lebenden Türken haben das bereits getan. Aktuelle Prognosen gehen von einer Fünfzig-fünfzig-Chance aus, dass Erdogan die Abstimmung für sich entscheiden kann.

Dabei könnten die 400.000 türkischen Kurden, die in Deutschland leben, das Zünglein an der Waage für das Endergebnis am 16. April bedeuten. Viele von ihnen haben bereits in der Türkei unter Unterdrückung und Gewalt leiden müssen, das Verhältnis zum türkischen Staat ist angespannt. Und auch die Stimmung unter jungen Menschen mit kurdischen Wurzeln lässt erahnen, welche Auswirkungen das Referendum auf sie und ihre Familien haben wird.

Systematische Unterdrückung der Kurden

Bereits jetzt geht Erdogan mit seinen Kritikern hart ins Gericht, 148 Journalisten sitzen in Haft, binnen einer Woche wurden 2000 Menschen festgenommen, denen Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen werden.

„Meine Eltern haben von Anfang an gesagt, dass das mit Erdogan so weit kommen wird“, sagt der 23-Jährige bei einem Bier am Ufer des Stadteils Kreuzberg, wo viele seiner Freunde leben. Dass es vor einigen Jahren eine gesellschaftliche Öffnung im Land für die Kurden gab – also ein paar kurdischsprachige Fernsehprogramme gesendet wurden und dass Kurdisch in der Schule gesprochen werden durfte – bezeichnet Azad als Masche der Regierung. All das lenke nur von der eigentlichen Unterdrückung der Kurden ab. Ausgangssperren und Menschenrechtsverletzungen in kurdisch geprägten Städten gehören zur Normalität, berichtet wird in den internationalen Medien über sie aber nur wenig.

„Die haben schon ihr Leben lang Angst“

In den vergangenen Monaten wurden kurdische Onlineportale abgeschaltet, die unabhängig von der türkischen Staatspresse über die Situation der Kurden in der Türkei berichteten. „Nach und nach war jede einzelne der Seiten offline. Für mich wird es immer schwerer, wirklich nachzuvollziehen, was da drüben abgeht“, sagt Azad.

Seine Großeltern wohnen mittlerweile auf der asiatischen Seite Istanbuls. Ihren Nachbarn erzählen sie nicht, dass sie am 16. April mit Nein abstimmen werden. „Die haben Angst, sich öffentlich gegen Erdogan auszusprechen. Die haben aber schon ihr Leben lang Angst, kein Wunder bei den Pogromen und Menschenrechtsverletzungen, die den Kurden und Aleviten angetan wurden.“ Erinnert sei hier an das Sivas-Massaker im Jahr 1993, bei dem 37 Menschen starben oder die vom türkischen Militär verhängte Ausgangssperre in der kurdischen Metropole Diyabakir im Winter 2015/2016

Rückschritte für die Demokratie

Laut Mehmet Tanriverdi, dem stellvertretenden Vorsitzenden der kurdischen Gemeinde in Deutschland, werden die rund 15 bis 20 Millionen stimmberechtigen Kurden – sie stellen circa ein Viertel der türkischen Gesamtbevölkerung – am Tag des Referendums ihr Kreuz bei „Hayir“ setzen oder der Wahl ganz fernbleiben. Auch die in Deutschland lebenden wahlberechtigten Kurden werden zum Großteil gegen die von Erdogan angestrebte Verfassungsreform stimmen. Dass sich inzwischen zahlreiche deutsche Politiker deutlich gegen Wahlkampfauftritte türkischer Minister und Funktionäre in der Bundesrepublik aussprechen, begrüßt die Gemeinde.

Wie Azad sieht auch *Rojda dem Ausgang des Referendums mit Bauchschmerzen entgegen. Die Verwandten der 25-jährigen Studentin stammen aus Ostanatolien. Die Familie des Vaters kommt aus einer Gegend, in der insbesondere sunnitische Kurden leben, sie aber sind Aleviten. Die Großeltern kamen Ende der sechziger Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland.

Ihre Verwandten werden alle gegen die Verfassungsänderung stimmen, sagt sie, als sie schwarzen Tee aufsetzt. „Für meine Familie gebe es nichts Schlimmeres, als Erdogan dabei zuzusehen wie er die Macht immer weiter bei sich konzentriert, um diese launisch auszuüben.“ All das, was gerade dort passiere, seien riesige Rückschritte für die Demokratie in der Türkei. Atatürks Erbe schmelze dahin. Obwohl der den Kurden ebenso Unrecht angetan hat, besteht die Familie aus Kemalisten. Noch immer hängt ein Porträt des Gründers der türkischen Republik bei ihrem Großvater im Wohnzimmer.

„Da kann man als Kurde nicht mehr pazifistisch denken“

Azad fordert, dass Deutschland auf politischer und wirtschaftlicher Ebene viel strenger mit der türkischen Regierung umgehen muss, insbesondere bei einem Sieg des Referendums für Erdogan und die AKP. Es könne nicht sein, dass die deutsche Regierung aus Angst vor den diplomatischen Folgen mit Ankara einen Eiertanz tanze und den Kurden keine Unterstützung im Osten des Landes anbiete. Selbst militärische Intervention lehnt Azad nicht ab, sollte sich die Lage wieder einmal zuspitzen: „Es gibt irgendwann einen Punkt, da kann man als Kurde nicht mehr pazifistisch denken.“  

Rojda wird dieses Jahr nicht in die Türkei zu ihren Großeltern fliegen. „Dieses System unter Federführung eines Despoten muss boykottiert werden“, sagt sie. Azad hingegen wird zum Referendum seine Großeltern besuchen. Er ist gespannt auf die Stimmung in Istanbul. Von Freunden wurde ihm berichtet, dass selbst in der sonst so weltoffenen und modernen Metropole die Stimmung gereizt sei und ein Klima des Misstrauens herrsche.

Zukunft ungewiss

Sollte eine Mehrheit der Türken für eine Verfassungsänderung stimmen, würde sich die Stimmung in Deutschland für die Kurden nicht wirklich ändern, sagt Azad und zuckt mit den Schultern: „Wieso auch? Viele Kurden sind ja auch hier, weil sie in ihrer Heimat bereits seit Jahrzehnten Hass und Gewalt erfahren haben.“    

Was die Lage in der Türkei betrifft, ist sich Rojda nicht sicher: „Entweder Erdogan bleibt milde gestimmt, weil er mal wieder seinen Willen durchsetzen konnte. Oder er haut noch einen drauf – aus Frust oder verletztem Stolz. Da ist er ganz gut drin.“ Ausschreitungen gegen Kurden würden zunehmen, Ausnahmezustände zur Normalität werden, ohne dass die Presse berichten würde – und das alles in einem Land, das seit beinahe zwei Jahrzehnten mit der Europäischen Union über einen Beitritt verhandelt.

*Azad und Rojda heißen in Wirklichkeit anders. Sie wollten aber nicht, dass ihre richtigen Namen im Zusammenhang mit dem türkisch-kurdischen Konflikt im Internet zu finden sind.

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