Rechtspopulismus und Finanzkrise - Der Reiz der nationalen Identität

In politisch unruhigen Zeiten greifen alte Zugehörigkeiten zur Nation und zur Ethnie. Der Fremdenhass verbindet sich mit dem Angriff auf die Eliten. Das war auch früher nicht anders

Pegida-Kundgebung in Dresden / picture alliance
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Autoreninfo

Prof. Colin Crouch ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Bis zu seiner Emeritierung 2011 leitete er das Institute of Governance and Public Management an der Warwick Business School der Warwick University. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften, unter anderem „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus “ (Berlin: Suhrkamp, 2011).

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Warum nur, haben wir uns gefragt, haben die Finanzkrise von 2008 und die aus ihr resultierenden Krisen der Wohlfahrtsstaaten, zusammen mit wachsender Ungleichheit und der Konzentration extrem großer Vermögen in den Händen einer globalen Elite, nicht zu einem politischen Angriff auf die Vorherrschaft des Neoliberalismus geführt? Die Antwort zeichnet sich allmählich ab. Es gibt diesen Angriff, doch zeigt er sich dies- und jenseits des Atlantiks als fremdenfeindlicher Populismus.

Aus der soziologischen Perspektive können wir nun rückblickend herausarbeiten, was geschehen ist. Dazu müssen wir als Erstes verstehen, dass es der großen Mehrheit der einfachen, politisch wenig interessierten Menschen schwerfällt, zu den bedeutenden Ereignissen des Wirtschafts- und Weltgeschehens eine eigene Position zu beziehen. Insbesondere dann, wenn Kritik an den mächtigen herrschenden Eliten auf der Tagesordnung steht – das erfordert durchaus Mut.

Die Ursprünge politischen Selbstverständnisses

Zweitens müssen wir bedenken, weshalb Menschen diese Hemmnisse überwanden und wie und warum Bürger sich vielerorts im Laufe des 20. Jahrhunderts politisch emanzipierten, wählen gingen und eigene Ansichten vertraten. Sie taten dies vor allem, weil die sozialen Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlten, im Streit um Bürgerrechte politische Bedeutung erlangten.

So legte sich etwa das grundbesitzende, die vorherrschende Religion praktizierende Großbürgertum eines Landes eine politische Identität zu, indem es jene, denen diese Merkmale fehlten, von den Bürgerrechten auszuschließen versuchte. Durch ihren Unmut über den Ausschluss fanden die hiervon Betroffenen wiederum einen Bezug zur Politik. In aller Regel verlief dieser Prozess komplizierter als in diesem Beispiel, und viele gesellschaftliche Gruppen sahen sich Druck aus unterschiedlichen Richtungen ausgesetzt.

Doch entstand aus all der Komplexität heraus das, was wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach und nach als selbstverständlich erachtet haben: dass die große Mehrheit der Bürger ein politisches Selbstverständnis und einen politischen Standpunkt hat.

Alte Zugehörigkeiten beeinflussen weiterhin das Wahlverhalten

Nachdem sich das Konzept der Staatsbürgerschaft allgemein durchgesetzt hatte und hierdurch die Konflikte um Zugehörigkeit beigelegt worden waren, verloren diese sozialen Identitäten allmählich ihre Daseinsberechtigung. Jedoch waren sie inzwischen so tief verwurzelt, dass sie weiterhin das Wahlverhalten strukturierten. Paradoxerweise hing daher der Fortbestand der Demokratie von Kräften ab, die durch deren Erreichen geschwächt wurden.

Die unvermeidlich schwindende Energie der sozialen Identitäten ließ durch zwei bedeutende Entwicklungen sogar noch stärker nach. Zunächst wurden durch die Entfaltung der postindustriellen Wirtschaft viele neue Berufe geschaffen, die keinen Bezug zu den früheren Auseinandersetzungen haben und die von Menschen ausgeübt werden, denen es schwerfällt, ihre sozialen Identitäten überhaupt mit Politik zu verknüpfen. Hinzu kamen der Bedeutungsverlust der Religion (in Europa, jedoch nicht in den USA) und die damit einhergehende Abnahme religiöser Identitätskonflikte.

Die Verteidigung von Nation und Ethnie

Jedoch bleibt eine soziale Identität mit politischen Implikationen von all diesen Änderungen unberührt wie vulkanisches Gestein, das nach der Erosion weicherer Sedimente als Bergspitze verbleibt: die Nation, möglicherweise in einem erweiterten Bedeutungszusammenhang zu verstehen als Ethnie. Doch damit nicht genug – vielmehr scheint die Verteidigung von Nation und Ethnie eine rationale Antwort auf die wesentlichen Bedrohungen zu sein, denen sich die Menschen ausgesetzt sehen: eine globale Wirtschaft – gesteuert durch eine kosmopolitische Elite, Migrationsströme, Flüchtlingswellen, islamistischer Terror.

Diese Antwort ist allerdings nicht vollends rational, denn solange ein Land nicht zu einem zweiten Nordkorea wird, bleibt der Traum, sich gegen globale Einflüsse abschotten zu können, unerfüllbar. Auch gibt es keinen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ursachen der Besorgnis: Flüchtlinge tragen keine Schuld an der Finanzkrise. Dies zu erörtern ist hier jedoch nicht die Aufgabe; sie besteht vielmehr darin, zu verstehen, wie bestimmte Politiker das Konzept der nationalen Identität nutzen, um solche Zusammenhänge herzustellen.

Der Angriff auf die Eliten

Alle fremdenfeindlichen Bewegungen, von Donald Trump in den USA bis hin zu Geert Wilders in den Niederlanden und Norbert Hofer in Österreich, verbinden ihre Angriffe auf Immigranten mit denen auf die nationalen Eliten. Sodann spüren die Bewegungen, die als nicht-fremdenfeindliche Kritik an Eliten begannen, wie etwa Il Movimento Cinque Stelle aus Italien, dass sie mehr Zugkraft entwickeln können, wenn sie ihre Angriffe auf Immigranten und Flüchtlinge ausdehnen. Gruppierungen wie die UKIP im Vereinigten Königreich oder die Alternative für Deutschland, die sich zunächst als Kritiker der Europäischen Union positionierten, haben mit einer Refokussierung ihrer Angriffe auf Immigranten und Muslime Erfolg gehabt.

Wie es scheint, hat nur die nationale Identität vielen Menschen den Mut gegeben, ihre jeweiligen Eliten zu kritisieren. Dabei agieren sie aus einer gesicherten Position heraus, denn die Rhetorik der Auseinandersetzung dreht sich erneut um Zugehörigkeit, und ihre Zugehörigkeit zu jenen Gesellschaften, von denen sie unterschiedliche Zuwanderungsgruppen ausgeschlossen sehen wollen, steht außer Frage. Eine solche Dynamik konnte auch Adolf Hitler in den 1930er-Jahren bewirken, als die Kritik an den Eliten zunehmend mit dem Thema Fremdenfeindlichkeit verwoben und davon schließlich so stark überlagert wurde, dass der Fremdenhass alles dominierte.

Der Text wurde ursprünglich in Englisch verfasst und im Auftrag des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung übersetzt.

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