Raserurteil in Berlin - Russisch Roulette auf der Straße

Nach ihrem illegalen Autorennen in Berlin, bei dem ein Unbeteiligter starb, sind die zwei Raser erneut wegen Mordes verurteilt worden. Zu recht, schreibt Staranwalt Gerhard Strate. Denn gerade die Gefahr für andere macht den makabren Reiz aus

Was vom tödlichen Autorennen übrig blieb. Nun wurden die Täter wegen Mordes verurteilt / picture alliance
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Autoreninfo

Gerhard Strate ist seit bald 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert in juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Foto: picture alliance

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Als sich Hamdi H. und Marvin N. in der Nacht zum 1. Februar 2016 spontan zu einem illegalen Autorennen verabreden, sind die Straßen trotz der nächtlichen Stunde, es ist bereits nach Mitternacht, keineswegs leer. Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 27. Februar 2017 wird ein „zwar den nächtlichen Gegebenheiten entsprechendes, jedoch nicht unerhebliches Verkehrsaufkommen“  festhalten. Kein Wunder: Die beiden Männer, damals 24 und 26 Jahre alt, haben für ihren Fight das Herz West-Berlins gewählt.

Mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 170 km/h brausen sie über den Kurfürstendamm, passieren die Kurve am Breitscheidplatz und biegen in die Tauentzienstraße ein. Hamdi H. beschleunigt seinen Audi S6 mit Vollgas, um den Mercedes-Benz AMG CLA 45 des vor ihm fahrenden Marvin N. zu überholen. Ein Zeuge wird später aussagen, die Geräusche der Fahrzeuge seien mit denen startender Sportflugzeuge vergleichbar gewesen. Kein Wunder angesichts der Leistungsstärke der Motoren.

Argloses Opfer

Beide Fahrer ignorieren die rote Ampel an der Kreuzung Nürnberger Straße. Der berechtigt und völlig arglos bei Grün aus der Nürnberger Straße in die Kreuzung einfahrende Maximilian Warshitsky hat keine Chance. Sein Jeep wird durch die Wucht des Aufpralls 70 m weit durch die Luft geschleudert, ehe er in seitlicher Lage aufprallt. Der 69-Jährige verstirbt noch am Unfallort. Auch die Beifahrerin von Marvin N. erleidet erhebliche Verletzungen, während die beiden Raser ihre Fahrzeuge mit leichten Blessuren selbstständig verlassen können.

Am 27.  Februar 2017 verurteilte die 35. große Strafkammer des Landgerichts Berlin beide Fahrer zu lebenslanger Haft. Die Kammer sah das Mordmerkmal der Verwendung eines gemeingefährlichen Mittels als gegeben an. Ein Urteil, das von dem für Verkehrsstrafsachen zuständigen 4. Strafsenat des BGH aufgehoben und auf dem Weg der Revision an eine andere Strafkammer verwiesen wurde. Nach Auffassung der Bundesrichter habe das Landgericht sich „nicht die Überzeugung verschafft […], dass die Angeklagten den Tod eines anderen Verkehrsteilnehmers als Folge ihrer Fahrweise schon vor dem Einfahren in den Kreuzungsbereich als möglich erkannten und billigend in Kauf nahmen.“  Nun verurteilte die 32. Strafkammer des Landgerichts Berlin Hamdi H. und Marvin N. erneut wegen Mordes zu jeweils lebenslangen Freiheitsstrafen.

Rechtsdogmatik versus Lebenswirklichkeit

Das sorgfältige Abwägen zwischen (bedingtem) Vorsatz und (bewusster) Fahrlässigkeit gehört zum täglichen Brot der Strafjustiz. Nahm ein Angeklagter die Folgen seiner Tat billigend in Kauf oder hielt er die von seiner Tat ausgehenden Gefährdungen zwar für möglich, vertraute aber darauf, dass sie nicht eintreten würden? Ab welchem Zeitpunkt des Tatgeschehens fasste er einen möglichen Vorsatz? Und hätte es ab diesem magischen Augenblick noch eine Möglichkeit gegeben, von der Tat zurückzutreten und ihre Folgen abzuwenden, oder war der Eintritt der Katastrophe bereits unausweichlich? Tatsächlich steht im Mittelpunkt der juristischen Aufarbeitung immer die zeitlupenhafte Betrachtung der Vorgänge und ihrer Motivation.

Das Ergebnis dieser Analyse entscheidet über Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung oder gefährliche Körperverletzung und ist damit maßgeblich für den Schuldspruch und die Rechtsfolge.Hierbei ist die Blindheit der Justitia gefragt, die selbst das Offensichtliche ausblenden muss, um zu einer objektiven Betrachtung der Tat zu kommen. Widerspricht das Endergebnis dieser juristischen Abstraktion dem für jedermann Erkennbaren, dann entstehen die altbekannten Lücken zwischen Recht und Gerechtigkeit. Diese machen sich besonders fühlbar bei der Lektüre der 19-seitigen BGH-Entscheidung vom 1. März 2018, mit der das erste Urteil des Landgerichts Berlin kassiert wurde.

Das Urteil des BGH ist für dessen amtliche Entscheidungssammlung vorgesehen, was regelmäßig nur dann geschieht, wenn darin Grundsätzliches ausgesprochen wird. In einem merkwürdigen Kontrast zu dieser Veröffentlichungspraxis steht es, dass der BGH in seinem Urteil nun ausgerechnet anmahnt, die Vorinstanz hätte nicht ausreichend „einzelfallbezogen“ gedacht und die „Eigengefährdung“ der Raser nicht in Betracht gezogen. Diese könne ein Indikator dafür sein, dass der Täter „auf einen guten Ausgang der Sache vertraut hat“. Das klingt seltsam ex cathedra. Wenden wir uns also einem Gebiet zu, das im Rahmen eines Strafverfahrens häufig außen vor bleibt: dem Offensichtlichen.

Das Spiel mit dem Leben der Mitmenschen

Ein Trommelrevolver, in der Regel mit sechs Kammern sowie eine einzelne Patrone. Mehr ist nicht notwendig für ein potenziell tödliches Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten. Jeder Mitspieler weiß um seine Überlebenschance beim Russisch Roulette: Sie beträgt, stark vereinfacht gesagt, fünf zu eins. Dass sich bei diesem dekadenten Spiel der Lauf des Revolvers nur gegen die eigene Schläfe richtet, macht es gegenüber einem nächtlichen Autorennen auf dem Ku‘damm fast schon zu einem sympathischen, wenn auch makabren Partygag.

Hamdi H. und Marvin M. jedoch legten auch das Leben ihnen unbekannter Mitmenschen in die Hände des launischen Zufalls. Elf teils schlecht einsehbare Kreuzungen und mehrere bei Rot überfahrene Ampeln  markierten ihre Rennstrecke. In einer verkehrsreichen Stadt, die, wie New York, bekanntlich niemals schläft, wäre die Frage, ob sich das potenzielle Risiko der Unternehmung wohl realisieren könnte, eher rhetorischer Natur gewesen.

Die Gefahr ist der Kick

Warum, so könnte man einwenden, verabreden sich Raser mit dem verhängnisvollen Testosteron-Benzin-Gemisch im Blut nicht einfach ganz legal auf dem Spreewaldring zu einem privaten Autorennen? Hier hemmen weder rote Ampeln noch arglose Verkehrsteilnehmer den Rausch der Geschwindigkeit. – Nun, weshalb lassen sich Russisch-Roulette-Spieler so ungern von einer Variante ohne Patrone überzeugen? Ganz klar: Die mögliche Realisierung der beträchtlichen Gefahr stellt zugleich den eigentlichen Kick solcher „Hobbys“ dar.

Intelligenzbolzen wie Hamdi H. und Marvin N. zu unterstellen, sie hätten den potenziellen Tod eines anderen Verkehrsteilnehmers womöglich nur einfach fahrlässig nicht bedacht, wäre deshalb sträflich naiv. Vielmehr ist der Kitzel eben dieses tödlichen Risikos der einzig denkmögliche Antrieb – man kann auch sagen: das Motiv – für die Veranstaltung derartiger Straßenrennen. Die beiden jungen Männer spielten auf heimtückische Weise Russisch Roulette unter Einsatz des Lebens arg- und wehrloser Zwangsteilnehmer. Nicht trotz, sondern wegen der damit verbundenen Gefahr. Einer der unfreiwillig Involvierten kam zu Tode. Er blieb „auf der Strecke“. Dafür erhielten sie lebenslange Haft. So ist es Recht.

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