Norbert Lammert - „Die junge Generation darf ihren Einfluss nicht unterschätzen“

Norbert Lammert war zwölf Jahre der Präsident des Deutschen Bundestags. Nun beendet er seine politische Karriere. Im Cicero-Interview spricht er kurz vor der Bundestagswahl über komplexe und schnelle Zeiten. Für die Jugend hat er einen Tipp

„Es wird im Plenum zu viel geredet, aber zu wenig debattiert“ / picture alliance
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Thomas Lipke schreibt als freier Journalist für verschiedene Magazine und Zeitungen über Politik und Sport. Im Juli dieses Jahres konnte er zu dem seinen ersten Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichen.

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Martin Wendiggensen studiert Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Mannheim.

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Herr Lammert, mal angenommen Sie wären heute 16 Jahre alt. Würden Sie sich dann politisch engagieren?
Unbedingt! Deutschland im Jahr 2017 ist nicht minder spannend als im Jahre 1964 als ich – mit 16 Jahren – in die Junge Union eingetreten bin, um „mitmischen“ zu können. Und ich würde dies auch und gerade rückblickend wieder tun mit dem Ziel, ganz konkret für die Anliegen der jungen Generation in meinem Umfeld einzutreten. Politik geht uns alle etwas an – sie gestaltet unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Es ist also wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jeder und jede von uns Einfluss auf die Gesellschaft nehmen kann und soll.

Ein Großteil der Jugend in Europa und Amerika ist politikverdrossen und tut genau das nicht. Was kann dafür unternommen werden,. dass sich wieder mehr junge und auch ältere Menschen beteiligen.
Es muss in der Tat nachdenklich stimmen, dass Politik und Parteien für viele junge Leute offensichtlich nicht attraktiv genug sind. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass die Jugendlichen heute dennoch genauso viel oder eben genauso wenig politisch interessiert sind wie frühere Generationen. Und wie früher ist die Demokratie ein mühsames Geschäft, ein Ringen um die besten Lösungen für komplexe Probleme und anschließend um Mehrheiten, damit gefundene Kompromisse auch umgesetzt werden können. Das besser zu erklären, ist in der schnelllebigen Kommunikationswelt zugegebenermaßen keine leichte Aufgabe, aber unabdingbar, um Interesse für Politik zu wecken. Am wichtigsten sind aber engagierte, glaubwürdige und politisch engagierte Menschen.

Politikverdrossenheit kann der erste Schritt zur Politikablehnung sein. Was muss eine Regierung tun, um politische Radikalisierung aufzuhalten?
Meine Empfehlung für alle politisch Verantwortlichen ist, sich unverdrossen zu bemühen, die Aufgaben so sorgfältig wie nur möglich zu erledigen – und damit Vertrauen in die Politik zu festigen. Denn Vertrauen ist das wichtigste Kapital der Demokratie. Für wünschenswert halte ich außerdem – auch und gerade in Wahlkampfzeiten –, etwas bescheidener in den Ankündigungen zu werden, dafür aber anspruchsvoller in den Zielen und mutiger in den Entscheidungen. Das ist nicht einfach, denn die aktuellen Probleme sind so komplex geworden, dass es naturgemäß keine einfachen oder gar Patentlösungen gibt, wie Populisten vormachen.

Wird die AfD die Entwicklung Deutschlands langfristig beeinflussen?
Bei aller Besorgnis bin ich insgesamt doch zuversichtlich, dass die in Deutschland historisch bedingte und besonders ausgeprägte Skepsis gegenüber extremen Strömungen populistische Gruppierungen nicht dauerhaft reüssieren lassen.

Sie haben mal gesagt, dass sich der Umgang und die Führung der Debatten im Plenarsaal gewandelt hätten. Was meinten Sie damit?
Kurz und bündig: Es wird im Plenum zu viel geredet, aber zu wenig debattiert. 

Fällt deshalb auch die Wahlbeteiligung?
Es lässt sich kaum seriös ermitteln, welchen unmittelbaren Einfluss die Qualität der Plenardebatten auf die Wahlbeteiligung hat – ein Quotenrenner sind sie leider Gottes nicht. Die Vorstellung aber, die wichtigste Aufgabe des Parlaments bestehe darin attraktiv zu sein, verkennt die Aufgaben der Volksvertretung. Im Übrigen steigt die Wahlbeteiligung in Deutschland seit längerer Zeit wieder. Das zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger die repräsentative Demokratie gerade in unruhigen Zeiten zu schätzen und zu nutzen wissen. Und ich kann nur – gerade auch an die jungen Wählerinnen und Wähler – appellieren: Nutzen Sie das „bürgerliche Königsrecht“ und gehen Sie wählen!

Ich rate jungen Menschen, sich genauer die Ergebnisse des britischen Referendums 2016 anzuschauen: Mehr als 70 Prozent der jungen britischen Wähler waren für den Verbleib ihres Landes in der EU. Und es wäre nicht zum Brexit gekommen, wenn sich nicht ausgerechnet zwei Drittel der 16 bis 24-Jährigen entschieden hätten, an der Abstimmung nicht teilzunehmen. Hier hat eine Generation ihren politischen Einfluss dramatisch unterschätzt.

Glauben Sie, dass der Einsatz von Social Media Bots und politischer Datenanalyse die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag langfristig beeinflussen kann?
Dieses Phänomen ist nicht zu unterschätzen. Der Umgang mit den neuen Medien erfordert mehr denn je gebildete und gut informierte Nutzerinnen und Nutzer. Daher ist Medienkompetenz in der heutigen Gesellschaft ungemein wichtig. 

Auf Ihrer Webseite zeigen sie ein Bild von Ihnen und dem Dalai Lama. Darunter steht der Satz „Es ist nicht leicht, die Welt zu verändern, aber der Versuch lohnt und manchmal ist er überfällig.“ Haben wir so einen Punkt der Überfälligkeit gerade erreicht?
Stillstand darf es in der Politik generell nicht geben, denn eine freie Gesellschaft wandelt sich unaufhörlich. Die Aufgabe der Politik besteht darin, Handlungsbedarf zu erkennen und mehrheitstaugliche Lösungen für die kleinen wie großen Probleme zu erarbeiten. Dabei ist fast immer eine Frage dabei, die „überfällig“ ist. 

Wie wird Deutschlands auf große Herausforderungen wie den Klimawandel reagieren?
Ich bin zuversichtlich, dass Deutschland seine gewachsene Verantwortung national und international wahrnehmen und zur Lösung der globalen Probleme – gemessen an unseren Möglichkeiten – beitragen wird.

Wie bewerten Sie unsere zukünftigen Verbindungen zu europäischen Partnern sowie zu den USA? 
Was die Zukunft bringt, lässt sich immer nur vorläufig bewerten. Doch ist aus meiner Sicht vor allem wichtig, im Gespräch zu bleiben und behutsam mit dem Erreichten umzugehen – innerhalb der Europäischen Union genauso wie in den transatlantischen Beziehungen. 

Mit wohl sechs Parteien im Bundestag verspricht die kommende Legislaturperiode spannend zu werden. Bedauern Sie, dass Sie nun an diesem Punkt aus dem Bundestag ausscheiden? 
Nein, im Gegenteil: Nach mehr als vierzig Jahren politischer Arbeit, zehn Legislaturperioden im Deutschen Bundestag und fast zwölf Jahren im Amt des Bundestagspräsidenten ist es Zeit, die Verantwortung in andere Hände zu legen. Zugegebenermaßen habe ich mir die Entscheidung nicht mehr anzutreten, nicht leichtgemacht. Und so schwierig es ist, den richtigen Zeitpunkt für einen solchen Abschied zu finden, so sehr glaube ich, dass es dafür kaum einen besseren geben würde.

Womit werden Sie sich in Zukunft beschäftigen?
Ich finde zum Beispiel Konzertsäle ebenso attraktiv wie Plenarsäle. Und da es jenseits der Politik vieles gibt, was mich persönlich interessiert, werde ich unter Beschäftigungsmangel gewiss nicht leiden.

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