Streit um die Grundrente - Großer Verschiebebahnhof

Eigentlich wollte die Große Koalition die Rentendebatte versachlichen. Doch derzeit passiert das exakte Gegenteil. Der Streit um die Grundrente steht für eine Regierung, der jeglicher Gestaltungswille abhandengekommen ist. Dabei geht es um die Frage: Millionen oder Milliarden?

Auf welches Gleis wird die Grundrente gestellt? / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Es ist das, was man in der Politik die „Beseitigung eines Talkshow-Problems“ nennt – also ein Argument zu eliminieren, das von interessierter Seite in Fernsehrunden immer wieder gebracht wird, um echte oder vermeintliche Ungerechtigkeiten im deutschen Sozialsystem möglichst plakativ zu beleuchten. In diesem Fall lautet der Totschlag-Satz in den Talkshows wie folgt:

„Es kann doch nicht sein, dass jemand, der jahrzehntelang in die Rentenkasse eingezahlt hat, im Alter schlechter da steht, als jemand, der sein Leben lang keine Rentenbeiträge gezahlt hat.“ Wer über ein Mindestmaß an Gerechtigkeitsempfinden verfügt, dem leuchtet dieser Punkt auch unmittelbar ein. Die Frage ist nur, ob es anders besser wird.

Lebensleistung, Grundrente und Bedürftigkeitsprüfung

Womit wir beim leidigen Thema der Grundrente wären, über das sich derzeit die Großkoalitionäre von Union und SPD streiten. Ob demnächst mit einem Durchbruch bei den Verhandlungen gerechnet werden kann, steht in den Sternen, denn bei Lichte besehen können beide Seiten inzwischen nur noch verlieren. Dabei hatte man sich doch im Koalitionsvertrag mit Müh und Not auf eine Formulierung geeinigt, die eigentlich recht klar ist. Dort heißt es nämlich:

„Die Lebensleistung von Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben, soll honoriert und ihnen ein regelmäßiges Alterseinkommen zehn Prozent oberhalb des Grundsicherungsbedarfs zugesichert werden. Die Grundrente gilt für bestehende und zukünftige Grundsicherungsbezieher, die 35 Jahre an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten aufweisen. Voraussetzung für den Bezug der Grundrente ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung.“

Wer mehr eingezahlt hat, bekommt weniger raus

Doch wie so oft ist „gut“ eben auch hier das Gegenteil von „gut gemeint“. Die vielen Fallstricke auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit bei der Altersvorsorge sind inzwischen hinlänglich beschrieben worden. Zum Beispiel anhand der Frage, warum jemand, der anstatt der vorgesehenen 35 nur 34 Jahre seine Rentenbeiträge geleistet hat, künftig in die Röhre gucken soll.

Konkret könnte das Rentenprojekt nämlich bedeuten, dass ein Arbeitnehmer, der 34 Jahre lang bei Vollzeit monatlich 2.000 Euro verdient und entsprechend hohe Beiträge gezahlt hat, am Ende einen Rentenanspruch von 672 Euro im Monat hätte. Während ein Arbeitnehmer, der nur ein Jahr länger (also 35 Jahre inklusive Erziehungs- und Pflegezeiten) halbtags zu 1000 Euro im Monat beschäftigt war, plötzlich bei einer Grundrente von 692 Euro landet. Wer deutlich mehr eingezahlt hat, bekommt weniger raus: Das klingt auch nicht gerade nach einem Ratschluss des weisen Königs Salomon.

200 Millionen oder 4 Milliarden Euro

Und als ob die Abgründe bei der konkreten Ausgestaltung der Grundrente nicht schon tief genug wären, will die SPD nun bekanntlich auch noch auf die Bedürftigkeitsprüfung verzichten – obwohl dieser Punkt im Koalitionsvertrag eindeutig festgeschrieben ist. Das allerdings wäre keine Petitesse: Ein Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung würde nämlich nicht nur den Gerechtigkeitsaspekt weiter verwässern, sondern auch finanziell mit einem erheblichen Mehraufwand zu Buche schlagen.

Experten rechnen mit dem Faktor 20. Will sagen: Mit einer Bedürftigkeitsprüfung wäre für die Grundrente mit zusätzlichen Ausgaben von rund 200 Millionen Euro jährlich zu rechnen, bei einem Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung läge die Summe bei offenbar mindestens 4 Milliarden Euro. Dass die Sozialdemokraten diesen Mehrbedarf mit ungedeckten Schecks – etwa der vagen Idee einer Finanztransaktionssteuer – decken wollen, lässt das gesamte Vorhaben erst recht nicht seriös erscheinen.

Es geht nur noch um Gesichtswahrung

Und so sind die bis auf weiteres ergebnislosen Hakeleien zur Beseitigung eines „Talkshow-Problems“ zum Sinnbild einer Koalition geworden, der die Kraft abhandengekommen ist, das Land nach vorn zu bringen. Annegret Kramp-Karrenbauer wird sich als CDU-Chefin daran messen lassen müssen, dass sie im Februar einen Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung zweifelsfrei ausgeschlossen hat.

Die nach links driftende SPD wiederum wird das von ihr selbst geöffnete Fass nicht mehr zubekommen, ohne ihrer Klientel etwas zu bieten, das der angeblich „entwürdigenden“ Bedürftigkeitsprüfung einen Riegel vorschiebt. Wie dabei am Ende kaum etwas Vernünftiges herauskommen kann, weiß derzeit niemand. Es geht nur noch um Gesichtswahrung und darum, die bevorstehenden Parteitage in Leipzig (CDU, Ende November) und Berlin (SPD, Anfang Dezember) halbwegs unbeschadet zu überstehen.

Experimentieren auf dem Verschiebebahnhof

Ganz nebenbei wurde mit dem sinnlosen Streit über die Grundrente auch noch ein Gremium desavouiert, das eigentlich für Struktur und Sachkompetenz in der Rentenfrage sorgen sollte – nämlich die von der Bundesregierung mit viel Aplomb eingesetzten Rentenkommission. Der Auftrag der zehn Kommissionsexperten besteht ganz offiziell darin, die „Herausforderungen der nachhaltigen Sicherung der gesetzlichen Rentenversicherung“ zu eruieren und „eine Empfehlung für einen verlässlichen Generationenvertrag“ vorzulegen.

Im März sollen übrigens die Ergebnisse vorliegen. Fragt sich nur, was die noch wert sind, wenn derweil auf dem großkoalitionären Verschiebebahnhof weiter experimentiert wird. Mit Nachhaltigkeit hat die aktuelle Rentenpolitik jedenfalls nichts zu tun.

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