Nach dem TV-Duell - Welt gegen Würselen: 0-0

Das Fernseh-Duell hielt überraschende Lektionen bereit: Kanzlerin und Herausforderer bewarben sich um Ämter, die am 24. September gar nicht zur Wahl stehen. Und Deutschland hat ein Elitenproblem

Angela Merkel und Martin Schulz beim TV-Duell: breite Schwaden der Lauterkeit / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Immerhin: Unter Fußballmillionären bekäme Angela Merkel eine satte Zweidrittelmehrheit. Christoph Metzelder erklärte schon vor dem gestrigen „TV-Duell“ mit Ausrufezeichen und Kommafehler, er werde für die amtierende Kanzlerin votieren, weil „ihr andere wichtiger sind, als sie selbst!“. Toni Kroos, auch nicht faul, kommentierte den Fernsehauftritt mit den Fanfarentönen: „Es lebe Angie!!!“. Der Real-Madrid-Star ist damit offiziell ins Lager der Jungen Union gewechselt, ja in deren juvenilste Spitzengruppe. Drei Ausrufezeichen müssen es sein; Nationalspieler Kroos will sich in seiner Begeisterung von keinem bestallten Generalsekretär und keiner parteieigenen Nachwuchsorganisation übertreffen lassen: „Wir sind stolz auf unsere Kanzlerin!“, heißt es dort vergleichsweise nüchtern.

Merkel will die Welt regieren, Schulz Würselen

Den weniger voreingenommenen Betrachtern des wohltemperierten Spektakels wird es nicht so ergangen sein. Dem Wortwechsel ohne Schläge, weder ober- noch unterhalb der Gürtellinie, fehlte eine Überschrift. Ja, gewiss, ein „TV-Duell“ sollte es sein, was indes eine rein formale Beschreibung ist. Die Gattung kennen wir nun und ihren Verbreitungsweg. Worum aber ging es? Wer sich den 97-minütigen Redemarathon antat, konnte eigentlich nur einen Eindruck gewinnen: Da war eine Frau, die die Welt regieren will, und da war ein Mann, der für den Stadtrat von Würselen kandidiert. Beide Posten stehen am 24. September nicht zur Wahl. Die Vereinten Nationen lassen nicht über die Nachfolge von António Guterres abstimmen, und die nächsten nordrheinwestfälischen Kommunalwahlen sind für 2019 terminiert. Ob die SPD ihre 16 Sitze in Schulzens Heimat wird halten können?

Jenseits der Frage, ob die beiden Kombattanten unterschwellig um eine Anschlussverwendung rangen, war der Unterschied der Tonlagen eklatant. In seinem Bemühen, „nah bei den Menschen“ zu sein, zog Schulz eine Würselener Schnurre nach der anderen aus dem dunkelblauen Jackett. Auf seine Muslime, erfuhren wir, lässt der Herausforderer nichts kommen, er wohne schließlich nur 500 Meter von der Würselener Moschee entfernt. Das seien alles anständige Leut‘. Der Islam lasse sich integrieren. Und „Handwerker bei mir im Haus“ bedrängten ihn unisono, wie das denn nun mit den Dieselautos, der Umrüstung und deren Kosten so weiterginge. Schulz wollte den Kümmerer geben und nahm nur die letzte Ausfahrt am Aachener Kreuz.

Uckermark, Vorpommern, Rügen kamen in Merkels Reden nicht vor. Sie will weiterhin die Frau ohne Eigenschaften sein, unentwegt unterwegs zu den Metropolen dieser Welt, unaufhörlich redend mit den Mächtigen, Supermächtigen und Supersupermächtigen. Ihre Stellenbeschreibung ist so global wie das Einsatzgebiet von Real Madrid oder des Raumschiffs „Enterprise“. Eben hat sie noch Frankreichs Präsidenten an der Strippe, da klingelt schon Donald Trump, Herr Tusk bittet um Rückruf, und die Afrikaner stehen Schlange, berichten von „bitterer Not und Armut“. Guter Rat muss nicht teuer sein, lautet Merkels Verkaufsargument, bei mir gibt es ihn im Dutzend billiger. Mutti wird das Kind schon schaukeln.

Themen, die fehlen

Fatalerweise fiel unter Merkels Ägide schon so manches Kind in den Brunnen. Sowohl die linke wie auch die rechte Kritik am Merkelismus ist ja nicht völlig substanzlos. Der Staatshaushalt ist aufgebläht, Armut gibt es, die Schuldenkrisen von Griechenland, Spanien, Italien gären weiter, steigende Mieten sind ein Problem, Russland und die Visegrad-Staaten dürfen sich brüskiert fühlen, die Nebenfolgen der erst improvisierten, dann maßlosen Migrationspolitik sind gewaltig. Auch der sich als Wadenbeißer gebende Moderator Claus Strunz wollte am Sonntagabend nicht den Finger in die offensichtliche Wunde legen, zumal im Lichte des Messermords von Hamburg, Merkels Geburtsstadt, und der Sexualstraftat von Leipzig. Die in der Luft liegende Frage blieb eben dort, schwebte über den Köpfen, ohne ausgesprochen zu werden: „Mit den Flüchtlingen kamen auch Terroristen und Straftäter. Sind das Kollateralschäden der Willkommenskultur, die wir akzeptieren müssen?“

Davon war keine Rede gestern. Stattdessen wissen wir nun, dass Merkel unverändert jeden Migranten, der an der Grenze das Zauberwort „Asyl“ zu sprechen weiß, ins Land lassen wird, eine Abweisung sei „generell nicht möglich“, erst danach greife die zauberische „Einzelfallprüfung“. Und dass sie am „Anspruch des Grenzschutzes“ festhält, freilich im europäischen, nicht im deutschen Maßstab: „Wir haben 3.000 Kilometer Grenze.“ Ei, mag es da durch den Kopf schießen, und Europas Grenze ist kleiner, Deutschland also größer als die EU? Oder ist die Bundespolizei zu dusselig zum Grenzschutz, während taffe Europäer es locker hinbekommen sollen? Metzelders Lob, Merkel seien „andere wichtiger“, bekommt unter diesem Gesichtspunkt eine abgründige Note.

Die Einzelprüfung als Taschenjoker

Ach, die „Einzelfallprüfung“. Sie war der Taschenjoker, wenn es brenzlig wurde und präzise hätten werden können. Gefährder abschieben? Da brauche es eine „Einzelfallprüfung“ (Schulz). Familiennachzug für alle? Das müsse man „im Einzelfall prüfen“ (Schulz). Der Umgang mit abgelehnten, aber geduldeten Asylbewerbern? Den „Einzelfall“ gelte es zu betrachten (Merkel). Ein letztes immerhin: Schulz will nicht einmal die EU-Außengrenzen schließen. Der Kandidat betreibt auf diesem Feld gewissermaßen die Nationalisierung der Außenpolitik. Und er nennt „Schulen“ als erste Instanz, wenn er „die, die Integrationsleistungen erbringen“, belobigt. Eine solche Integration klingt plötzlich wieder nach Einbahnstraße, wird zum Serviceangebot derer, die schon länger hier leben, für die anderen „Menschen in Deutschland“ (Merkel).

Weil das ganze Leben ein Einzelfall ist, von Politikern in reifen Demokratien aber mehr verlangt werden muss, als Einzelfälle zu bearbeiten und Huld und Gnade je nach persönlicher Erschütterung walten zu lassen, ist dieses Zauberwort die ultimative Nebelkerze. Sie hüllt die große Frage nach dem Warum und Wozu und Wohin, die Sinn- und Normenfrage, in breite Schwaden der Lauterkeit. Es wäre des Herausforderers und der Journalisten Aufgabe gewesen, den billigen Rauch von der Bühne zu blasen und auf dem Grundsätzlichen zu beharren. So sahen wir nur einen Herausforderer, der sich wacker schlug, eine Amtsinhaberin im Vollbesitz der eigenen Wichtigkeit, und über allen thronte als geheime Überschrift das brave deutsche Mittelmaß.

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