Mobbing - „In Deutschland wird erst bei körperlichen Attacken reagiert”

Der Selbstmord einer Elfjährigen an einer Berliner Schule führt zu der Frage: Wird Mobbing an Schulen noch immer nicht ernst genommen? Warum dies Leben zerstören kann, darüber spricht die Mobbingberaterin Monika Hirsch-Sprätz. Auch Gerichte gehen mit Tätern viel zu lasch um, sagt sie

Kerzen und Windlichter vor der Berliner Grundschule in Reinickendorf / picture alliance
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Monika Hirsch-Sprätz ist Sozialpädagogin, Supervisorin, Mediatorin, Dozentin und Beraterin für Konfliktmanagement. Sie leitet die Mobbingberatung Berlin-Brandenburg.

Frau Hirsch-Sprätz, wir sprechen aus einem traurigen Anlass miteinander. In Berlin hat sich eine erst elfjährige Grundschülerin das Leben genommen. Das Kind soll gemobbt worden sein.
Die Eltern des Mädchens hatten das Mobbing an der betreffenden Schule bereits angezeigt. Sie sollen daraufhin offenbar eine eher ausweichende Reaktion von Seiten der Schule bekommen haben. Zumindest scheint nicht adäquat reagiert worden zu sein, was dazu geführt hat, dass das Mädchen seine Situation nicht mehr ausgehalten hat und dann Selbstmord begangen hat.

Wenn sich ein Kind zu einer solch furchtbaren Handlung entschließt, muss der Verlauf vorher doch entsprechend heftig gewesen sein. Schulen müssten beim Thema Mobbing inzwischen doch mehr als alarmiert sein?
Ja, das Thema ist nicht neu. Mindestens jeder dritte Schüler bekommt in seiner Klasse Mobbing zu spüren oder hat schon erlebt. Das ist eine sehr hohe Zahl. Bei Schulen wird das häufig heruntergespielt, gedeckelt und negiert. Schulleitungen sind auf den Ruf ihrer Schule bedacht und möchten nicht wahrgenommen werden als Schule mit Mobbing-Problemen.

„Kinder können ganz schön fies sein”, heißt es immer wieder. Verharmlost dieser Ausspruch in gewisser Weise ein großes Problem? Nach dem Motto: So sind Kinder eben?
Kinder, die mobben, können sich tatsächlich fies verhalten. Und wenn das im Rahmen der Schule passiert, dann hat die Schule neben dem Bildungs- und Erziehungsauftrag auch die Aufgabe, die Gesundheit und den Schutz gemobbter Kinder zu gewährleisten.

Und damit meinen Sie auch die psychische Gesundheit.
Ja, körperliche und psychische Gesundheit. In Deutschland ist es leider so, dass erst bei körperlichen Attacken reagiert wird. Gerade die seelischen Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen werden häufig übersehen. Aber das Kind wird zugleich oftmals dadurch noch weiter stigmatisiert, als dass wirklich anerkannt wird, dass es sich bei Mobbing um eine Form von psychischer Gewalt handelt.

Stigmatisiert in der Art, das betreffende Kind habe einfach einen zu schwachen Charakter?
Ja, „Zu labil”, „Kann sich nicht wehren”, „Muss sich ein dickeres Fell zulegen”, „Das sind Kinderspiele oder pubertäre Spiele”. Mit solchen Äußerungen tun Erwachsene ein Problem ab, um sich nicht selbst darum kümmern zu müssen.

Die Auswirkungen solch seelischer Verletzungen können schlimmstenfalls dazu führen, dass sich jemand das Leben nimmt. Was macht Mobbing mit Menschen?
Es gibt Unterschiede bei Kindern und Erwachsenen. Die Erwachsenen haben mitunter jahrelang Strategien entwickelt, damit umzugehen – hilfreiche und weniger hilfreiche. Kinder sind hirnorganisch noch in der Entwicklung. Bei ihnen prägt sich in der Vorpubertät und Pubertät unter anderem der Gerechtigkeitssinn. Es ist entscheidend für die seelische Entwicklung, dass ein Kind in seiner Wahrnehmung nicht irritiert wird. Mobbing-Situationen sind äußerst irritierend, weil Kinder am Ende nicht mehr wissen: Behandeln die anderen mich zurecht so? Bin ich wirklich so blöd oder schwach, wie die alle sagen? Oder ist vielleicht die Gruppe im Unrecht? Für Kinder ist es sehr schwer, sich einer Gruppe entgegenzustellen. Das schaffen ja nicht oft nicht einmal Erwachsene.

So kann sich kein Selbstbewusstsein entwickeln.
Ja, insbesondere während der Pubertät geht es darum, herauszufinden: Wer bin ich. Und darum, immer mehr in diese Klarheit hineinzuwachsen. Eine normale Entwicklung hat natürlich auch mit Streit und Konflikt zu tun. Darüber lernt man sich kennen. Streit muss fair stattfinden und das sollte von Erwachsenen vorgelebt und begleitet werden.

Gibt es Kinder, die dazu neigen, eher in die Opferrolle zu geraten? Welche sind eher Täter?
Man geht davon aus, dass die Mobbing-Akteure jene sind, die selbst durchaus auch schon Opfererfahrungen gemacht haben. Das kann zum Beispiel Zuhause in der Familie der Fall gewesen sein. Der große Bruder ärgerte zum Beispiel den kleineren. Täterinnen und Täter haben oft auch ein völlig übersteigertes Selbstwertgefühl anderen gegenüber. Solche Kinder haben mitunter gelernt: Ich muss immer Recht haben. Ich muss immer gewinnen. Ich muss immer der Stärkere sein. Kinder, die eher introvertiert sind, können gegebenfalls leichter in eine Opferrolle geraten.

Und bei Mobbing-Opfern ist es umgekehrt?
Es ist gibt nicht nur laute Täter, sondern auch stille Täter, die über andere agieren. Ebenso gibt es auch verschiedene Opfertypen. Es gibt hilflose Opfer, die als schwach wahrgenommen werden, aber auch provozierende. Das können zum Beispiel Einzelkinder sein, die zuhause nie die Möglichkeit bekommen mit Geschwistern gewisse Rangkämpfe zu führen. Oder es sind Kinder, die viel sich selbst überlassen sind, weil die Eltern sehr beschäftigt und wenig zuhause sind. Manche Kinder haben bestimmte Merkmale, die in einer Gruppe nicht gut ankommen und die diese Erfahrung immer wieder machen.

Oft hören Kinder den Satz: „Du bist ja auch selber schuld”. Ist da was dran?
Es geht nicht um Schuld. Aber es gibt Kinder, die mehr oder weniger bewusst die Opferrolle suchen. Die ihre Rolle richtiggehend provozieren. Solche Kinder suchen derartige Grenzerfahrungen, um sich selbst zu spüren oder um überhaupt irgendeine Form der Aufmerksamkeit zu bekommen. Schläge, Tritte oder Häme, um nicht ignoriert zu werden. Es ist psychisch hoch dramatisch und problematisch, wenn Schläge derart mit Zuneigung verwechselt werden. Das kann Hintergründe von Gewalt in der Familie oder von sexuellem Missbrauch haben.

Wenn man die Täter- und Opfer-Ursachen so analysieren kann, müsste das doch dazu führen, solche Probleme lösen zu können.
So einfach ist es leider nicht. Schulen beschäftigen sich leider oft viel zu wenig mit den Hintergründen der Kinder, sondern vor allem mit den jeweils akuten Situationen. Man darf Konflikte aber nicht vertagen. Man muss herausfinden, warum was wie passiert.

Der oder die hat mich geärgert, ist wohl noch kein Mobbing. Welche Signale müssen Lehrer und auch Eltern erkennen?
Kinder streiten, ärgern sich. Die Frage ist, wie ein Erwachsener das auffängt. Erwachsene sollte beispielsweise beide Parteien zusammenholen und fragen: Was ist passiert? Dann hört er sich beide Versionen an, wie es zu der Situationen gekommen ist. Wenn Konflikte zeitnah aufgefangen werden, lernen die Kinder zunächst, dass sie sich in solchen Fällen an Vater, Mutter oder Lehrer wenden können. Außerdem lernen sie: Nicht jeder Streit ist dramatisch, sondern es gibt Lösungen, die sie sogar selbst gestalten und formulieren können. Gerade weil der Begriff Mobbing auch schnell in den Mund genommen wird, ist Differenzierung wichtig.

Wie unterstützen Sie in der Mobbingberatung solche Prozesse?
Es kommen Eltern mit ihren Kindern in die Beratung. Wir bieten Kindergruppen an, für Kinder aus verschiedenen Schulen, die Mobbing erfahren. Wir entwickeln zudem Maßnahmen für Schulen, veranstalten Anti-Mobbing-Trainings und gestalten Elternabende. Wir vermitteln auch zwischen Eltern und Schulleitungen, wenn so ein Thema Mobbingsituationen aufkommen.

Was erzählen diese Kinder? Was wird als besonders schlimm empfunden?
Das typische „Ist ja alles nur Spaß” wird als besonders schlimm empfunden. Eben weil es nur für die Täterseite spaßig ist. Jungs werden gedemütigt oder verpetzt, geschubst oder getreten. Auch die Erfahrung, vor einer ganzen Gruppe bloßgestellt zu werden, ist schlimm. Sie wissen von vornherein, dass sie unterliegen und dann feuert auch noch eine Gruppe den oder die Täter an. Schlimm für Kinder ist auch, im Schulhof einfach stehengelassen zu werden. „Mit dir spielen wir nicht”, „Wir wollen nicht, dass du zu uns kommst” – das ist für viele Kinder kaum auszuhalten. Sie werden nicht zu Geburtstagen eingeladen oder von anderen privaten Treffen ausgegrenzt. Auch Mädchen wissen sehr genau, wie man jemanden ausgrenzt, wie man lästert und hinter dem Rücken schlecht über andere spricht. Was früher als Zickenkrieg bezeichnet wurde, schlägt heute auch in körperliche Gewalt um.

Welche Rolle spielen Erwachsene dabei?
Kinder empfinden es als besonders kränkend, wenn sie von Erwachsenen, also Autoritätspersonen, falsch beurteilt werden. Laut Studien gibt es eine starke Opferfokussierung bei Lehrern, was meint, dass Lehrer Situationen oft erst über Verhaltensweisen der Opfer wahrnehmen. Zum Beispiel wenn sie laut werden und sich wehren. Durch die „selbstbewusste Selbstdarstellung” der Täter geraten die Opfer dann in den Fokus. Die Täter stellen sich als vermeintlich unschuldig dar und die Schuld wird dem Opfer gegeben. So werden Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern stigmatisiert.

Ist Mobbing schlimmer als früher? Haben Chats, soziale Netzwerke und das Internet das Problem verstärkt oder nur verlagert?
Mobbing war auch früher schlimm. Cyber-Mobbing ist genauso schlimm wie das Mobbing vor Ort, vergrößert aber die Dimension. Die Verbreitungskultur durch die neuen Medien ist quasi grenzenlos. Tätern gibt es, solange sie anonym bleiben, oft eine besondere Genugtuung, wenn sie sehen, wie ihr Opfer im Netz bloßgestellt wird. Inhalte verbreiten sich unkontrolliert Tag und Nacht. Das kann Auswirkungen bis zur späteren Berufswahl haben. Die berechtigte oder auch unberechtigte Angst, dass ein künftiger Arbeitgeber auf solche Informationen stößt, kann extrem verstören.

Das bedeutet doch im Zweifel pure Existenz-Angst.
Ja, das ist ein extrem großes Bedrohungspotenzial. Das geht soweit, dass wir Studenten begleitetet haben, die schon vier bis fünf Universitäts- und Städte-Umzüge hinter sich hatten, um vor den digitalen Tätern zu fliehen. Das Thema war aber damit nicht erledigt. Es gibt tatsächlich unglaubliche Konstrukte von Seilschaften, die „Hater”, die sich gegenseitig übers Netz informieren, wo die betroffene Person sich inzwischen aufhält. Je mehr Apps eine Form der Überwachung anbieten, indem Lebenswege und Berufswege nachvollzogen werden können, desto schlimmer wird das.

Was läuft bei Menschen ab, die anderen so etwas antun?
Ein übersteigerter Blick auf sich selbst und ein zugleich geringes Selbstwertgefühl kommen zusammen. Sie brauchen die Schwäche anderer, um sich stark zu fühlen. Solche Täterinnen und Täter weiden sich am Leid der Opfer. Es fehlt komplett an Empathie. Mit solchen Menschen, insbesondere mit solchen Kindern müssen Perspektiven und Konfliktlösungen sehr intensiv trainiert werden.

Gibt es regelrechte Opferkarrieren?
Bei Opfern entsteht ein Muster. Ein Muster von Demütigungen und Schikane. Ein Muster, wie sie mit diesen Situationen umgehen. Die einen haben permanent Angst und ziehen sich zurück. Andere werden aggressiv. In diesem ständigen Spannungsfeld aus Angst und Aggression verändert sich deren Persönlichkeit in einem nicht positiven Sinne. Das kann soweit gehen, dass solche Menschen in jedem einen potenziellen Täter sehen. Sie beziehen dann alles auf sich, obwohl vielleicht jemand ganz anderes oder es ganz anders gemeint war. Sie können solche Trigger nicht mehr neutral betrachten, reagieren traumatisiert.

Und bei Täterinnen oder Tätern?
Wenn Täter mit solchen Aktionen immer durchkommen, verstärkt sich das Gewaltpotenzial und das Potenzial, Psychoterror auszuüben, massiv. Das wird zu einem Muster ihres Lebens im Umgang mit ihrer Umgebung. Solche Menschen werden immer ein bestimmtes Sensorium dafür haben, wer das nächste Opfer ist. Auch sie verändern sich in ihrer Persönlichkeit.

Was für ein Schaden entsteht damit auch für unsere Gesellschaft?
In der Arbeitswelt wird inzwischen pro betroffenem Arbeitnehmer von Kosten ausgegangen, die zwischen 25.000 bis 175.000 Euro pro Mitarbeiter und Jahr liegen. Gerichtskosten, Anwaltskosten, Versetzungen, Krankschreibungen und schlimmer noch: Die Gesellschaft verroht.

Wird Mobbing strafrechtlich ausreichend restriktiv verfolgt oder braucht es sogar härtere Gesetze?
Wir brauchen bezüglich Mobbing endlich eine härtere Gesetzgebung, wie sie von der EU auch längst gefordert wird. Deutschland hält sich nicht daran. Nötigung, Erpressung, üble Nachrede und Rufschädigung gelten als Straftatbestände, die auch bei Mobbing vorkommen. Aber das Opfer, auch wenn es ein Kind ist, trägt die Beweislast. Es bräuchte unbedingt eine Beweislastumkehr in Richtung der Täter.

Das würde eine Ausnahme von unserem rechtlichen Grundsatz bedeutet, wonach der Kläger Beweise zu erbringen hat.
Gerichte erwecken nicht selten den Eindruck, dass wir in einem Staat leben, der Täter schützt. Von Anwälten, Staatsanwälten und Richtern wird gegen Opfer entschieden, obwohl Beweise, Gutachten oder Atteste vorliegen. Der Duktus ist, alles muss über Vergleiche schnell vom Tisch, weil so viele Fälle anstehen und Richtermangel herrscht. Selbst Polizisten müssen überredet werden, Strafanzeigen aufzunehmen. Bei der Staatsanwaltschaft wird dann das Verfahren gerne wegen Geringfügigkeit oder mangelndem öffentlichen Interesse eingestellt. Das finde ich haarsträubend. Schule und Arbeitsplatz sind öffentliche Räume.

Über Selbsttötungen berichten wir in der Regel nicht – es sei denn, die Umstände der Tat führen zu einer besonderen Aufmerksamkeit. Sollten Sie selbst das Gefühl haben, Hilfe zu benötigen, dann wenden Sie sich bitte umgehend an die Telefonseelsorge. Dort können Sie kostenlos und anonym unter 0800-1110111 oder 0800-1110222 mit Beratern sprechen, die Ihnen helfen können, Auswege aus schwierigen Situationen zu finden.

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