Merkels Volksbegriff - Bleiche Mutter ohne Courage

Für Angela Merkel gehört zum Volk jeder, der in diesem Land lebt. Diese Definition zeigt das enge Denken der Kanzlerin und bereitet rechten Ideologen das Feld, schreiben der Jurist Matthias Buth und der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland, Ali Ertan Toprak

Volk: Das ist das Staatsvolk. Wieso sind die einfachsten Tatsachen der Bundeskanzlerin nicht bekannt? / picture alliance
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Matthias Buth ist ein deutscher Jurist, Dichter und Schriftsteller. Foto: Simone Ahrend

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Ali Ertan Toprak ist Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland.

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Von Ludwig Wittgenstein beziehen wir die Erkenntnis: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Und Andreas Gryphius, der Dichter aus Schlesien und mit Martin Opitz Begründer der deutschen Poesie, ruft uns zu: „Form ist höchster Inhalt.“ Heinrich Heine, auch er ein Dichterjurist, schrieb 1844 im Prolog zu „Deutschland. Ein Wintermärchen“: „Pflanzt die schwarz-rot-goldene Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschentums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben.“

Diese Äußerungen von Dichtern und Denkern machen klar, wie groß das Erschrecken ist über die Äußerung der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden am 25. Februar in Stralsund. Sie hat dort öffentlich gesagt: „Das Volk ist jeder, der in diesem Land lebt.“

Legitimität ist nicht Legalität

Dieser Satz der Chefin der Bundesregierung ist entlarvend, denn er ist verfassungsrechtlich und kulturgeschichtlich völlig indiskutabel. Und zugleich kommentiert er die Eigenmächtigkeit der Kanzlerin vom September 2015, als sie sich entgegen der deutschen Rechtsordnung und des Europarechts an der deutsch-österreichischen Grenze zur Alleinhandelnden aufschwang und meinte, sie sei legitimiert, aus biblischer Barmherzigkeit als Staat zu handeln. Legitimität ist aber nicht Legalität. Und nur letztere ist nach dem Grundgesetz geboten.

Die nationalistischen Einlassungen auf den Straßen von Dresden und Leipzig, die dem „Stürmer“-Stil nahe sind, verwunden uns alle, treffen uns ins Herz als Staatsbürger und geschichtsbewusste Deutsche. Deshalb ist mit Kenntnissen aus Recht und Geschichte dagegenzuhalten. Mit Sätzen wie in Stralsund bereitet man jedoch nur den Dumpfbacken das Feld.

Volk = Staatsbürger

Wieso sind die einfachsten Tatsachen der Bundeskanzlerin nicht bekannt, wieso liefert sie sich so dem Gespött und dem demokratischen Entsetzen aus? Artikel 20 des Grundgesetzes sagt doch in Absatz 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Volk: Das ist das Staatsvolk. Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 31.10.1990 den Begriff „Deutsches Volk“ in der Präambel sowie in Artikel 56 und 146 GG mit dem des „Volkes“ gleichgesetzt und die Deutschen, die in Artikel 116 Abs.1 GG genannt sind, einbezogen. Entscheidend ist der rechtliche Status als Staatsbürger und somit als Wahlbürger und eben nicht die ethnische Zugehörigkeit. Deshalb gehören alle eingebürgerten Bundesbürger mit Zuwanderungsgeschichte zum Staatsvolk, zum Deutschen Volk. Das Deutsche Volk setzt sich inzwischen aus circa 150 Ethnien zusammen. Auch der (vormals) Fremde mit deutschem Pass gehört dazu, zum Staatsvolk, zum Volk.

Fataler Ausdruck eines Staatsverständnisses

Die Definition der Bundeskanzlerin ist nicht nur verfassungsrechtlich abwegig, sie macht auch ein Denken deutlich, das von den Grundsätzen der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung wegführt. Wer im Kanzleramt hat ihr diese fatale Definition zugereicht? Aber es ist wohl leider keine Panne eines ungenauen Redenschreibers, sondern Ausdruck eines Staatsverständnisses, das einen schütteln lässt.

Von Deutschland redet die Bundeskanzlerin auch nur hin und wieder, „Vaterland“ ist ihr aber ein Fremdwort, als wäre dies ein Begriff aus ferner Zeit. Auf den Schlachtfeldern von Verdun wurden Millionen hingemetzelt aufgrund einer engen Vorstellung vom Vaterland, auch mit Hilfe von Geistern wie Thomas Mann, da man sich kulturell überlegen sah. Es war für Deutsche und Franzosen das Vaterland, das in den Tod schickte. Doch davon bei der Gedenkfeier vergangenes Jahr kein Wort. Das macht bitter.

Genaue Begrifflichkeiten sind wichtig

Auch heute gibt es „die Deutschen“. Das aber sind für Merkel „diejenigen, die schon länger hier leben“. Das muss provozieren, denn das ist Sprachverweigerung. Wir alle wissen, dass die Begriffe „Bevölkerung“ und „Volk“ keine Synonyme sind, auch wenn uns das ein Künstler im Innenhof des Reichstagsgebäudes suggerieren will. „Im Namen des Volkes“ wird jedes Urteil in der Bundesrepublik gesprochen. Nicht „Im Namen der Bevölkerung“. Das wäre auch rechtlich und damit auch verfassungsrechtlich daneben.

Wenn uns Deutschland als „europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfasster demokratischer Rechtsstaat“, wie es in Paragraf 4 des Deutsche-Welle-Gesetzes von 2005 heißt, etwas wert ist und wir es gegen die NS-affinen Sprüche von rechts und links verteidigen wollen, ist eine rechtlich zutreffende und politisch-poetisch öffnende Begrifflichkeit erforderlich.

Sprache ändern – sofort und grundlegend

Deutschland schafft sich ab? Nein. Deutsch, aber glücklich? Schon eher.

Form ist höchster Inhalt, sagt Gryphius. Brecht beschrieb Deutschland als „bleiche Mutter“ – im Angesicht der von unserem Land verursachten Verheerungen und Völkermorden. Bleiche Mutter oder blasse Mutter?

Will Angela Merkel die Mutter Courage von Deutschland und Europa sein, muss sie sich ein Herz nehmen und ihre Sprache ändern. Sofort und grundlegend. Gedichte, vor allem die von Heinrich Heine können ihr dabei helfen.

Die Grenzen der Welt werden von der Sprache bestimmt. Deutschland ist nicht die Welt, aber auch nicht Stralsund. Deutschland ist das Land von Heinrich Heine, Rose Ausländer und Wolfgang Borchert. Das wollen wir umarmen und wissen uns sicher in diesem „Mutterland Wort“.

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