Lockdown-Talk bei „Anne Will“ - Mit der Geduld am Ende

Im Lockdown-Talk bei „Anne Will“ wird deutlich, dass sich die Regierung mit ihrer Corona-Politik eingemauert hat. Denn wenn selbst die Grünen und der „Spiegel“ nicht mehr applaudieren, muss der Karren schon ziemlich tief im Dreck stecken. Deswegen wirkt auch Markus Söders Merkel-Lob deplatziert.

Lockdown ohne Perspektive? / Screenshot ARD
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Wir leben im 21. Jahrhundert, die hochtechnologisierte Welt ist weitgehend durchdigitalisiert, Pharmaunternehmen stellen in Rekordtempo neue Impfstoffe her, die Innovationskraft der Menschen bis hin zu Klein- und Kleinstunternehmern lässt staunen und ist enorm. Nur die staatlichen Institutionen, das wird leider immer deutlicher, sind nicht in der Lage, dieses zweifelsfrei vorhandene gesellschaftliche Potential auch nur annähernd zu nutzen. Und das, obwohl für diese ureigenste Aufgabe einer Berufs-Politik (die meisten Mandatsträger sind ja keine Auswechselspieler, sondern verfolgen in den Parlamenten langfristige Karrieren) sogar fast unlimitierte finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. 

Dennoch reagiert „die Politik“ (wenn man das einmal so pauschal sagen darf) mit stumpfsinnigem Lockdown-Absolutismus, mit einer Unfähigkeit zur Kommunikation. Und mit einem, das ist das Allerschlimmste in dieser Situation des inzwischen einjährigen Ausnahmezustands, völlig desolaten Management in praktisch allen Bereichen. Das Impfstoff-Desaster ist in dieser Hinsicht ja nur die Spitze des Eisbergs. Man muss sich nur einmal mit Menschen unterhalten, die etwa in Krankenhäusern arbeiten, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie dysfunktional unser Gemeinwesen nach vielen Jahrzehnten des vermeintlichen Sonnenscheins und der allzu naiven Sorglosigkeit (um nicht zu sagen: der politisch gewollten bürgerschaftlichen Agonie) geworden ist.

Lockdown als Symbol

Der Lockdown ist deswegen auch ein Symbol dafür, wie sehr unser Staat sich zwar daran gewöhnt hat, Einnahmen zu generieren, wie wenig er aber gleichzeitig in der Lage ist, angemessen auf Notsituationen zu reagieren. Genau dieses Gefühl verbreitet sich derzeit in der Bundesrepublik, deren Bürgerinnen und Bürger oftmals gar nicht fassen können, was ihnen Tag für Tag zugemutet wird: von nicht enden wollenden Warteschleifen in Impftermin-Hotlines bis hin zu einem Fernunterricht, der in erster Linie eines lehrt. Nämlich, wie sehr wir in Deutschland die Dinge haben schleifen lassen. Dinge, die in der Privatwirtschaft seit langem selbstverständlich sind, können offenbar vom öffentlichen Sektor nicht nur nicht erwartet werden. Sie einzufordern galt noch dazu bis zuletzt beinahe als Brunnenvergifterei: Wer etwa die vergeigte Vakzin-Beschaffung der EU-Kommission kritisierte, durfte sich als „Impfstoff-Nationalist“ verächtlich machen lassen.

Inzwischen geht die Phase der allzu langen Schönfärberei (Merkels Diktum von wegen, im Großen und Ganzen sei doch alles gut gelaufen, lässt grüßen) dann doch einem ernüchternden Ende entgegen. Das wurde im sonntagabendlichen Corona-Talk von Anne Will (andere Themen kommen dort ja praktisch nicht mehr vor) mehr als deutlich: Wenn sich selbst Kolleginnen vom ansonsten regierungstreuen Spiegel sowie die eigentlich handzahmen Koalitionspartner in spe namens Bündnis 90/Die Grünen zu fundamentaler Kritik an der Krisenbewältigungsstrategie der Großen Koalition hinreißen lassen, muss der Karren schon wirklich sehr tief im Dreck stecken.

Im Schnelldurchlauf bleibt festzuhalten, dass die Hauptstadtbüroleiterin des Spiegel, Melanie Amann, jene Kampfeslustigkeit an den Tag legte, die die meisten ihrer Kollegen in pandemischen Zeiten offenbar für ungehörig erachten. Jedenfalls machte Amann schon gleich zu Beginn der Sendung klar und deutlich: Der plötzliche Wechsel vom bis vor kurzem noch alles entscheidenden Inzidenzwert 50 hin zur neuen „35er-Doktrin“ sei zumindest erklärungsbedürftig. Doch genau das, eine Erklärung nämlich für das neue Kapitel in infektiologischer Zahlenmagie, sei nicht erfolgt. Die Bewohner dieses Landes hätten es halt zu hinzunehmen - und reagierten aus nachvollziehbaren Gründen zunehmend unwillig.

Söders Merkel-Moment

Bayerns Ministerpräsident und erprobter Corona-Hardliner Markus Söder antwortete darauf mit den erwartbaren Argumenten. Corona sei eine Chronologie von Fehleinschätzungen, die Mutationen erforderten eine Risiko-Neubewertung, man gehe einen „vorsichtigen, abwägenden Weg“ und könne eben angesichts eines unberechenbaren Virus nicht alles „Wochen und Monate vorher bestimmen“. Was auch niemand eingefordert hatte, sondern eben nur eine nachvollziehbare Krisenkommunikation. Aber das nur am Rande. Dass Söder sich noch zu der Behauptung verstieg, der Distanzunterricht für Schüler klappe „deutlich besser als angenommen“, das war sozusagen sein persönlicher Merkel-Moment bei Anne Will.

Womit er sich prompt und völlig zurecht den Widerspruch der Grünen-Chefin Annalena Baerbock einhandelte, die Söders Einschätzung rundheraus ablehnte: „20 Prozent der Kinder verlieren total den Anschluss“, weswegen es im Bundestag eine fraktionsübergreifende Initiative geben müsse, um dem Corona-Bildungsnotstand in einer bundesweiten Kraftanstrengung irgendwie entgegenzuwirken. „Ein Jahr lang ist da nichts passiert“, so Baerbock, die auch nicht akzeptieren wollte, dass es der Bundesregierung nicht nur an einer generellen Corona-Strategie fehle. Nicht einmal Schnelltests, die in anderen Ländern längst in Gebrauch seien und die insbesondere auch an Schulen eine Rückkehr zum Unterrichtsbetrieb sicherstellen könnten, seien in Deutschland absehbar an der Tagesordnung. Das Fazit der Grünen-Vorsitzenden: Die Regierung fährt auf Sicht und manövriert ansonsten ohne jede Perspektive.

Keine Perspektive

Was natürlich der Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz nicht auf sich sitzen lassen wollte. In seiner sachlichen Art, aber ohne allzu große Überzeugungskraft, sprach er von einer „amtlichen Entscheidung, die nicht politisch verfügt werden sollte“ sowie von einer „gut abgewogenen Strategie“. Jedenfalls werde die Bundesregierung dafür sorgen, dass es mit den Corona-Schnelltests zügig vorangehen könne. Und überhaupt sei mit der neuen Inzidenzwert-Wegmarke von 35 auch „eine Perspektive formuliert“. Welche das sein sollte, offenbarte sich allerdings bei Scholz nicht so genau. Was wahrscheinlich kaum anders geht, aber ein Zukunftsversprechen hatte auch niemand erwartet. Gewisse Perspektiven hingegen schon, und da war Scholzens Hinweis auf mögliche Öffnungsschritte doch sehr im Ungefähren verhaftet.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner war in dieser Sendung ganz auf der Linie von Annalena Baerbock (was, wie gesagt, verdeutlicht, wie sehr sich die Bundesregierung inzwischen eingemauert hat). Lindner verlangte mehr Flexibilität in der Pandemie-Bekämpfung und beklagte eine „scheinbare Alternativlosigkeit zwischen Lockdown und Öffnung“. Im Übrigen drohe jetzt auch bei den Corona-Schnelltestes „dieselbe Schläfrigkeit“ wie bei der Impfstoff-Beschaffung. Oberstes Ziel müsse es sein, „gesellschaftliches Leben wieder herzustellen und gleichzeitig Infektionsschutz zu gewährleisten“.

Markus Söders Schlusswort nach dieser für die Bundesregierung (und auch für ihn selbst) wenig ruhmreichen Stunde: Er sei „persönlich froh“, dass Angela Merkel das Land durch diese Krise führe. Das sei ihm gegönnt. Bei vielen anderen lässt die Begeisterung über diese Begebenheit inzwischen aber doch merklich nach.

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