Alltagsrassismus - „Ich bin zwar illegal, aber nicht kriminell“

Mit seiner Anekdote aus einer Warteschlange in einer Bäckerei hat FDP-Chef Christian Lindner eine Kontroverse über Alltagsrassismus losgetreten. Was denkt eigentlich jemand, der illegal in Deutschland lebt, darüber? Wir haben einen von ihnen befragt

Schwarzarbeit in der Küche: Weil er kein Asyl bekam, schlägt sich der Koch Salman Boussoufa als Küchenhelfer durch / picture alliance
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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„Wie es im wirklichen Leben aussieht, davon habt Ihr doch keine Ahnung“ – diesen Vorwurf hören Politiker immer wieder, aber auch Journalisten. Gerade wenn sie – wie wir in der Cicero-Redaktion – in der Hauptstadt Berlin leben und arbeiten, wirkt das auf viele offenbar so, als seien wir auf einem fernen Planeten unterwegs. Und sie kritisieren, dass wir zwar gern über Menschen sprechen und schreiben, aber kaum mit ihnen reden. Der Vorwurf trifft uns hart, und wir nehmen ihn sehr ernst. Deswegen starten wir auf Cicero Online eine Serie, in der wir genau das tun: Mit Menschen sprechen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber mitten im Leben, und dort täglich mit den Folgen dessen zurechtkommen müssen, was in der fernen Politik entschieden wird. Den Auftakt macht ein Gespräch mit einem Mann, der illegal in Deutschland lebt. Muss man wirklich Angst vor ihm haben in der Schlange beim Bäcker, wie FDP-Chef Christian Lindner meint? Lesen Sie selbst

Herr Boussoufa*, sagt Ihnen der Name Christian Lindner etwas?
Ja, das ist ein deutscher Politiker – von der AfD, oder?

Nein, er ist Chef der FDP. Von ihm stammt das Zitat: „Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hoch qualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter Ausländer.“ Was denken Sie, wenn Sie diesen Satz hören?
Nett ist das nicht. Ich habe auch keine gültigen Papiere. Ich lebe illegal in Deutschland. Aber deswegen bin ich noch lange kein Krimineller. 

Haben Sie solche Bemerkungen schon häufiger gehört?
Na ja, wer spricht das schon laut aus? Ich habe ja auch keinen Stempel auf der Stirn: Illegaler. Es ist mir aber schon zweimal passiert, dass mich Männer gefragt haben, wo ich herkomme. Aus der Westsahara, habe ich gesagt. „Das ist ist kein Bürgerkriegsland“, haben sie gesagt. 

Womit sie Recht haben. 
Ja und nein. Die Westsahara ist eine ehemalige spanische Kolonie, die 1975 von Marokko besetzt wurde. Seit 1991 herrscht dort zwar Waffenstillstand. Aber was heißt das schon? Du findest dort keine Arbeit. Es gibt keine Universität. Die Krankenhäuser sind im katastrophalem Zustand. Du kannst nicht einfach verreisen. Es ist ein bisschen wie im Gaza-Streifen. Wir werden behandelt wie Menschen zweiter Klasse. 

Dann sind Sie aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland geflohen?
Kann man das eine vom anderen trennen? Was kaum jemand in Europa weiß, ist, dass der arabische Frühling  2010 mit einer großen Demo in meiner Heimatstadt El Aaiún begann. Ich habe mit 40. 000 Menschen gegen die Diskriminierung durch die Besatzer demonstriert. Dann kam die marokkanische Polizei und hat die Demo beendet. 30 Demonstranten wurden verhaftet, darunter auch zwei Nachbarn und ein Freund. Sie sitzen bis heute im Gefängnis.

Und Sie?
Die Polizei hat mich mit Knüppeln verprügelt. Nach vier Tagen kam ich wieder frei. Halb tot. Fünf Jahre später kam wieder ein Brief. Ich sollte nochmal zur Polizei kommen. Seither bin ich auf der Flucht. Ich habe mir einen gefälschten belgischen Pass besorgt. 

Wie sind Sie dann nach Deutschland gekommen?
Durch einen Freund, der schon in Berlin war. Ich war zuerst in Paris, wo ein Onkel von mir lebt. Der hat gesagt, ich sollte meinen Asylantrag in Frankreich stellen. Dort ist die Erfolgschance höher als in Deutschland. Man weiß dort über die politischen Verhältnisse in der Westsahara besser Bescheid. Hätte ich bloß auf ihn gehört.

Warum?
In Berlin musste ich fast zwei Jahre lang warten, bis mich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einem Gespräch bestellt. Zwei ganze Jahre. Ich finde, das geht nicht. Wenn man die Leute nicht haben will, soll man sie gleich wieder nach Hause schicken. Aber man lässt sie nicht zwei Jahre lang schmoren. Du rennst von Behörde zu Behörde. Du kannst dich auf nichts richtig konzentrieren. 

Was haben Sie in der Zeit getan?
Ich habe einen Deutschkurs besucht und eine Ausbildung als Koch in einem Hotel begonnen. Es war hart, aber besser als im Flüchtlingsheim herumzusitzen. Ich hab mein eigenes Geld verdient. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht. Aber Anfang 2017 musste ich aufhören. 

Warum?
Ich hatte dieses Gespräch im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Wissen Sie, was mich der Sachbearbeiter zuerst gefragt hat?

Nein.
Wo  die Westsahara liegt. Er hatte noch nie was von dem Land gehört. Ich hab es ihm auf der Landkarte gezeigt. Ich musste ihm auch sonst alles erklären. Eine Stunde lang. 

Auf deutsch? 
Nein, ein Dolmetscher hat mich begleitet. Aber ich dachte trotzdem, ich bin im falschen Film. 

Wann hat sich das BAMF wieder bei Ihnen gemeldet?
Drei Monate später kam ein Brief: Mein Asylantrag sei abgelehnt worden. Warum, weiß ich nicht. Ich hab nicht alles verstanden. 

Viele abgelehnte Asylbewerber klagen gegen einen solchen Entscheid. Die Erfolgsquote lag 2017 bei 40 Prozent. Warum haben Sie es nicht versucht? 
Das frage ich mich heute auch. Damals hatte ich keine Kraft mehr. Ich war am Ende. 

Was haben Sie gemacht?
Ich bin nach Spanien geflohen, um dort als Koch zu arbeiten. Ich hab gehört, dass man es als Bürger der Westsahara dort leichter hat, einen spanischen Pass zu bekommen. Aber es hat nicht funktioniert. Nach einem halben Jahr bin ich zurückgekommen nach Berlin. Ich bin jetzt illegal hier. 

Was ist das für ein Gefühl? 
Ich bekomme kein Geld mehr vom Staat. Das waren am Anfang immerhin 400 Euro. Ich bin offiziell nicht mehr krankenversichert. Ich muss mich jetzt ganz allein durchschlagen. 

Wie schaffen Sie das? 
Das fragt mich meine Mutter auch immer. Es ist schwer. In Afrika habe ich Autos verkauft. Hier habe ich schon alle möglichen Jobs gemacht. Auf dem Bau, in der Küche, als Babysitter oder als Verkäufer auf dem Flohmarkt. 

Wie kommen Sie an solche Jobs heran?
Die findet man nicht in der Zeitung. Ich bin eben gut über Facebook vernetzt. Nach fast drei Jahren in Berlin kennst Du immer irgendjemanden, der jemanden kennt, der einen Job für Dich hat. 

Es gibt einen eigenen Markt für Schwarzarbeit?
Ja, den Eindruck habe ich. Auf den Baustellen, auf denen ich gearbeitet habe, habe ich nur Leute getroffen, die auch illegal hier waren. Die kamen aus der Türkei, aus Libyen, aus Algerien oder aus der Ukraine. Ich habe echt gestaunt. 

Warum?
Das waren alles professionelle Handwerker. Männer, die hierher kommen, um ihre Familie zu ernähren. Das sind nicht solche Jungs wie die, die im Görlitzer Park rumhängen und andere Leute mit ihren Drogen kaputtmachen. Ich würde sagen, der Anteil der Kriminellen unter den Illegalen liegt vielleicht bei fünf Prozent. 

Wäre es nicht verlockend, mit krummen Geschäften viel Geld zu verdienen, wenn man sowieso kaum noch etwas zu verlieren hat? 
Ich bin ja nicht wegen des Geldes hier. sondern weil ich geflüchtet bin. Ich komme auf 700 Euro im Monat. Das reicht zum Leben. 

Auch bei den steigenden Mieten in Berlin? 
Ein WG-Zimmer kann ich mir davon nicht leisten. Ich teil mir ein Zimmer mit drei Spaniern. Das kostet 200 Euro im Monat. 

Was machen Sie, wenn Sie mal krank werden? 
Ich hab Glück gehabt. Als ich die Ausbildung im Hotel begann, bekam ich eine Krankenversichertenkarte. Die ist noch bis Ende dieses Jahres gültig. 

Was machen ihre illegalen Freunde, wenn sie krank sind aber nicht so eine Karte haben?
Ich kenne keinen, der dann zum Arzt geht. Neulich hat ein Bekannter von mir so hohes Fieber gehabt, dass seine Mitbewohner Angst hatten, dass er stirbt. Aber er ist nicht ins Krankenhaus gegangen. Er hatte Angst, dass er verpfiffen und abgeschoben wird. 

Das kann Ihnen auch passieren, wenn die Polizei Sie anhält und Sie nach Ihren Papieren fragt. Haben Sie davor keine Angst?
Doch, es ist gefährlich. Aber ich versuche, nicht daran zu denken. Das macht dich nur krank. 

Aber wie kann man auf Dauer so leben?
Ich bleibe noch bis Ende dieses Jahres in Deutschland. Dann geh ich nach Spanien. Ich versuche, dort einen Pass zu bekommen. Hier verschwende ich bloß meine Zeit. 

Wenn das Leben so hart ist in Berlin, warum sind Sie dann überhaupt wieder her gekommen?  
Ich mag die Stadt. Die ist offen. Ich habe hier tolle Menschen aus der ganzen Welt kennengelernt. Es mag komisch klingen, aber ich fühle mich hier frei. 

Bereuen Sie Ihre Flucht nach Deutschland? 
Wenn ich vorher gewusst hätte, wie schwer es wird, wäre ich nicht gekommen. Ohne Pass kannst du dein Leben nicht weiterleben. Du musst die Jobs machen, die sonst kein anderer machen will. Es ist traurig. 


*Salman Boussoufa, 35, ist 2015 aus der Westsahara nach Berlin geflüchtet. Sein Asylgesuch wurde vor einem Jahr abgelehnt. Seither lebt er illegal hier. 

*Name von der Redaktion geändert 

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