Lehren aus Überschwemmungen - „Wir haben gelernt, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen“

Schon zweimal erlebte die sächsische Stadt Grimma schwere Hochwasserschäden. Im Gespräch erzählt Oberbürgermeister Matthias Berger von den bleibenden Eindrücken und den Konsequenzen, die seine Stadt ziehen musste.

Aufräumarbeiten auf dem Marktplatz von Grimma 2013 / dpa
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Autoreninfo

Alissa Kim Neu studiert Kulturwissenschaften und Romanistik in Leipzig. Derzeit hospitiert sie bei Cicero.

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Matthias Berger ist seit 2001 parteiloser Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Grimma im Westen Sachsens.

Ihre Stadt war schon zweimal, 2002 und 2013, von starkem Hochwasser und Überschwemmungen betroffen. Was geht Ihnen da durch den Kopf angesichts der aktuellen Katastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz?

Auch wir hatten uns damals gar nicht vorstellen können, von einem so heftigen Hochwasser getroffen zu werden. Ab und an hatte es kleine Hochwasser mit Pegelständen von 30 Zentimetern gegeben. Plötzlich aber stand das Wasser 8,30 Meter hoch und flutete in der Stadt nicht mehr nur Keller, sondern die oberen Hausgeschosse. In der Situation waren wir sehr hilflos angesichts der Wassermassen, genauso wie die Menschen in Rheinland-Pfalz und NRW.

Wie erlebten Sie die Zeit nach dem Hochwasser?

Wir haben große Solidarität erlebt und schnelle Hilfe vom Staat bekommen. Es kamen sehr viele Helfer aus Ost und West, die uns halfen, Müll und Schlamm zu beseitigen. So erlebten wir besonders 2002 eine Dynamik des Wiederaufbaus. 2013 kam das Hochwasser dann wieder, zwar ein bisschen weniger stark als 2002, aber es zerstörte dennoch Häuser und Infrastruktur.

Was macht das mit den Einwohnern von Grimma?

Für die Leute war das natürlich ein großer Schock, dass sie 2013 nun schon wieder alles aufbauen mussten. 2002 gab es eben noch diese Aufbaudynamik und auch einen gewissen Stolz, 2013 war das dann schon schwieriger. Viele hatten auch Angst, dass das nun alle zehn Jahre passiert und der ganze Aufbau so zur Sisyphusarbeit wird.

Zogen viele Leute deswegen aus Grimma weg?

Seit 2019 ist unsere Hochwasserschutzanlage fertiggestellt, die gibt uns viel Sicherheit angesichts neuer Überschwemmungen und vielen Einwohnern auch den Mut zu bleiben.

Kann man sich als Nicht-Betroffener überhaupt das Ausmaß des Schadens vorstellen, den solche Wassermassen anrichten?

Wenn aufgrund der damaligen Überschwemmung Fernsehteams in Grimma sind, dann finden sie die Hochwassermarke oft nicht, weil sie nicht so weit suchen. Die Mulde, also unser Fluss hier in Grimma, hat sich innerhalb von eineinhalb Tagen verhundertfacht. Das kann so schnell gehen und die Aufmaße sind verheerend, das ist kaum vorstellbar.

Hat die Menschen in Grimma die Überflutungskatastrophe von NRW und Rheinland-Pfalz besonders betroffen gemacht?

Viele können sich gut vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn über Nacht die ganze Existenz weggespült wird. Deshalb sind viele Einwohner aus unserer Stadt als Helfer in die betroffenen Gebiete gefahren. Auch unsere Feuerwehr ist dort im Einsatz, ständig rufen Menschen auf dem Rathaus an und wollen helfen. Ihre Devise ist dabei oft die: Uns haben damals so viele Menschen geholfen, jetzt wollen wir das zurückgeben.

Es gab damals auch eine 252 Seiten dicke Aufarbeitung einer Expertenkommission. Welche Lehren zogen Sie daraus?

Nun, in dem Bericht gab es einige Parameter in Bezug auf Grimma, die einfach nicht stimmten. Es handelte sich um einen typischen Bericht, den ein Theoretiker irgendwo am Schreibtisch geschrieben hatte, der aber vor Ort nicht sehr hilfreich war. Wir mussten unsere eigenen Schlussfolgerungen und Konsequenzen nach dem Hochwasser ziehen und die auch umsetzen.

Und die wären?

Wir haben schmerzhaft gelernt, die Natur ernst zu nehmen und unsere Informationsbeschaffung zu verbessern. Per App können jetzt jederzeit die Hochwasserstände abgerufen werden. Das Wichtige ist der Transport der Information, also einer Warnung an die breite Masse der Bevölkerung. Das geht bei uns per freiwilligem SMS-System, mit dem innerhalb von 20 Minuten Warnungen versendet werden können. Im äußersten Notfall haben wir dann auch in allen Ortsteilen moderne Sirenen, mit denen wir Alarm schlagen können. 2013 hat das bei der Evakuierung enorm geholfen: 2002 gab es einen Toten, 2013 ist niemand ums Leben gekommen.

Wie hat sich die Bebauung in der Stadt geändert?

Matthias Berger / Stadt Grimma

Bei Hochwasser ist oft nicht die Frage, ob es wiederkommt, sondern wann es wiederkommt. Deshalb achten wir genauer darauf, wo Häuser gebaut werden. Oder wenn sie renoviert werden, auf welche Art und Weise: also mit Betonwänden, Fließen mit Strom-, Wasser- und Gasverteiler, die mindestens im ersten Stock angebracht werden.

Ihre Maßnahmen hören sich so an, als ob sie komplett an Ihrer eigenen Initiative hingen …

Ja, der Ausbau des Warnsystems hing stark an unserem Engagement, wir entwickelten auch die entsprechenden Modelle selbst. Das ist meiner Meinung nach mittlerweile der Fluch unseres Landes geworden. Alle warten, bis der Staat eingreift und streben nach Fördermitteln. Die Kommunen werden auf diese Weise handlungsunfähig und verlieren an Tatkraft, da sie nur noch Teile ihres Einkommens aus eigener Kraft bestreiten können. Der Rest des Geldes wird nur sehr umständlich über Anträge ausgezahlt. Da muss man sich dann nicht wundern, wenn von allein nicht viel passiert. Wir haben den größten Teil unseres Hochwasserschutzes selbst besorgt, bauen die Parkbänke und Bushaltestellen mittlerweile selber, bevor wir monatelang auf Gutachter und Sachverständige warten müssen.

Denken Sie, dass die Situation besser wäre, wenn es eine zentrale Katastrophen- oder Hochwasseranlaufstelle des Bundes gäbe?

Ich kann mir gut vorstellen, dass nun auf Bundesebene eine Agentur für Hochwasserschutz gegründet wird und danach noch ein Institut und noch eine Agentur. Doch die Informationsketten sind dann oft zu lang. Schon beim deutschlandweiten Warntag im letzten Jahr konnte man sehen, dass die Warnsysteme nicht funktionieren. Aber bis das Ganze ausgewertet, evaluiert und an die zuständigen Stellen geschickt wurde, da ist schon irgendwo das nächste Hochwasser oder die nächste Katastrophe. Katastrophen- und Zivilschutz gehört beides auf die Ebene der Kommunen.

Was ist laut Ihrer eigenen Erfahrung in NRW und Rheinland-Pfalz nun wichtig?

Die Hilfen, die jetzt in NRW und Rheinland-Pfalz anlaufen, die müssen erst mal ganz praktisch und unbürokratisch sein. Förderanträge, Datenschutz und all das kann dann in einem zweiten oder dritten Schritt folgen. Wichtig ist jetzt, dass der Schlamm nicht fest wird, der in die Keller und Häuser in den Katastrophengebieten geschwemmt wurde. Einmal getrocknet, lässt sich so was nur noch mit Presslufthammern entfernen und verklebt Kanalisationen und Fundamente. Das ist eine Lehre von 2002, aufgrund der wir 2013 dann mit Wasser  gefüllten Jaucheanhängern stundenlang im Kreis gefahren sind, um den Schlamm feucht zu halten.

Kann der deutschlandweite Hochwasserschutz also von Grimma lernen?

Das möchte ich nicht so sagen. Jedes Hochwasser ist unterschiedlich. Aber wir haben unsere Lehren aus dem gezogen, was passiert ist und sind wachsam.

Gibt es in Grimma ein größeres Bewusstsein für Katastrophenschutz und Hochwasserprävention?

Die Regenfälle, die in Westdeutschland das Hochwasser auslösten, waren bei uns vor 14 Tagen tatsächlich schon Thema. Es wurde abgewägt, ob diese Wetterlage auch uns treffen könnte, und wir haben deswegen unser Hochwassersystem überprüft. Auch vonseiten der Bewohner kamen besorgte Anfragen. Erst als dann klar wurde, dass es den Westen und nicht Sachsen treffen würde, haben wir Entwarnung gegeben. Das heißt, das Bewusstsein ist im Stadtrat sowie in der Bevölkerung sehr hoch und wir beobachten Wetterphänomene genau.

Geht das erhöhte Bewusstsein für Hochwasser auch mit einer erhöhten Prävention für Umweltgefahren einher?

Was wir in Grimma gelernt haben ist, unser Schicksal ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen. Zu Umweltgefahren wie Bränden, Hochwassern oder starken Stürmen kommt es immer wieder. Wir haben eine große, gut eingespielte Feuerwehr und sind bereit, da nachzubessern, wo wir Bedarf sehen, auch aus Eigeninitiative heraus.

Die Fragen stellte Alissa Kim Neu

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