Krise der Demokratie - Warum das Losverfahren keine Alternative ist

Immer mehr Menschen fühlen sich von ihren Abgeordneten nicht repräsentiert. Der belgische Historiker David Van Reybrouck schlug deshalb vor, Volksvertreter per Los bestimmen zu lassen. Das aber würde nicht mehr, sondern deutlich weniger Demokratie mit sich bringen

Der Wahlgang: Das vornehmste Mittel, sich an der Demokratie zu beteiligen / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Ortlieb Fliedner ist Rechtsanwalt in Bonn und Autor des Buches „Warum soll ich wählen gehen? Wie funktioniert unsere Demokratie?“, sowie des Titels "Rechtsetzung in Deutschland Gesetzgebung in der Demokratie“. Er arbeitete lange Jahre im Bundesinnenministerium sowie in der SPD-Bundestagsfraktion und war erster hauptamtlicher Bürgermeister von Marl.

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Trump, Brexit, Marine Le Pen vor dem Élysée Palast die Welt ist aus den Fugen, die Demokratie in der Krise. Da scheint plötzlich der Rettungsanker gefunden zu sein. Im Cicero-Februarheft 2017 hieß es, „Demokratie wird heute gleichgesetzt mit Wahlen. Das ist ein Fehler. Werden die Volksvertreter durch Auslosen bestimmt, hat das viele Vorteile.“ Oder in der Welt-Gruppe: „Schafft die Wahlen ab, es ist besser, zu würfeln!“

In allen deutschen Leitmedien wird derzeit das Losverfahren als Alternative zu demokratischen Wahlen diskutiert. Auslöser dieser Diskussion war der belgische Historiker David Van Reybrouck, der mit seinem Buch „Gegen Wahlen“ das Losverfahren propagierte.

Das Repräsentationsproblem

So schrieb die Zeit, „die westlichen Demokratien haben ein Repräsentationsproblem“. Früher saßen im Deutschen Bundestag zahlreiche Abgeordnete, die bloß die Volksschule besucht hatten. Sie waren Werkzeugmacher, Handwerker, einfache Leute. Heute sind die meisten Abgeordneten studierte Juristen.“ Eine durch das Los bestimmte Bürgerversammlung, die statt der gewählten Parlamente wichtige Entscheidungen trifft, soll Abhilfe schaffen bei diesem Repräsentationsproblem.

Das Losverfahren garantiere eine echte Repräsentation der Bevölkerung. Die Mitglieder dieser Versammlung könnten sich Experten anhören, um das notwendige Wissen zu erlangen, intensiv diskutieren und am Ende Entscheidungen treffen, die fern von Korruption und Parteiengezänk seien. Mit solchen Entscheidungen könnte daher das Vertrauen in die Demokratie gestärkt werden. Dass dieses Vertrauen verloren gegangen sei, zeige die immer geringer werdende Wahlbeteiligung.

Losverfahren als Rettung der Demokratie

Von den Medien wird dieser Vorschlag durchweg mit einem positiven Grundton kommentiert, manche sehen im Losverfahren sogar die Zukunft der Demokratie. Van Reybrouck selbst ist der Überzeugung, dass nur noch diese aleatorische Demokratie (alea = der Würfel) unsere jetzige Demokratie vor dem Zusammenbruch bewahren kann.

Da die Probleme der westlichen Demokratien nicht zu übersehen sind, sollte selbstverständlich jeder Vorschlag, der diese Situation verbessern könnte, ernsthaft geprüft werden. Doch es verblüfft, dass eine Prüfung nicht wirklich stattfindet. Wesentliche Aspekte des Vorschlags tauchen in der aktuellen Diskussion nicht auf.

Die falsch verstandene Repräsentation

Schon die Prämisse, die Krise rühre daher, dass die Parlamente nicht mehr große Teile der Bevölkerung repräsentierten und dies früher anders gewesen sei, ist unzutreffend.

Die Behauptung, dass erst heute die meisten Abgeordneten studierte Juristen seien, ist falsch. In den fünziger Jahren betrug ihr Anteil im Deutschen Bundestag rund 23 Prozent. 2012 waren es 22 Prozent. Aber was die Nostalgiker völlig vergessen: In den ersten 30 Jahren des Deutschen Bundestages betrug der Anteil der weiblichen Abgeordneten zwischen 5 und 7 Prozent, heute sind es etwa 36. Damals war also die Hälfte der Bevölkerung fast gar nicht repräsentiert.

Wunsch, aber kein Wesensmerkmal

Doch nicht nur die Fakten sind falsch. Auch der Ansatz, dass eine Demokratie nur dann wirklich funktioniere, wenn Entscheidungen von einem repräsentativ für die Bevölkerung zusammengesetzten Gremium getroffen werden, ist nicht haltbar. Aktives und passives Wahlrecht sind in der Demokratie an keinerlei Voraussetzungen geknüpft, wenn man vom Alter und dem Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte absieht.

Die Demokratie überlässt es somit jedem selbst, ob er wählen geht oder sich zur Wahl stellt. Es gibt keinerlei Instrumente, mit denen erreicht werden könnte, dass ein Parlament ein repräsentatives Abbild der Bevölkerung darstellt. Eine entsprechende Forderung ist daher immer nur ein Wunsch, besser eine Illusion, aber kein Wesensmerkmal unserer Demokratie.

Nur am Rande sei bemerkt, dass wahrscheinlich auch die besten Statistiker überfordert wären, aus den 62 Millionen deutschen Wahlberechtigten eine die gesamte Breite der Bevölkerung repräsentierende Bürgerversammlung von 1000 Personen per Losverfahren zusammenzustellen. Stimmen schon die Problembeschreibung und die Begründung des Losverfahrens nicht, ist es noch verwunderlicher, dass nicht gesehen wird, dass das Losverfahren nicht mehr, sondern deutlich weniger Demokratie mit sich bringen und langfristig die Demokratie erheblich gefährden würde.

Drei wesentliche Aspekte unserer Demokratie mögen dies verdeutlichen.

1. Wahlen ermöglichen Abwahl

Kernstück jeder Demokratie ist es, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen muss. Mit und durch Wahlen wird demokratische Herrschaft für eine bestimmte Zeit legitimiert. Die durch das Losverfahren zusammengesetzte Bürgerversammlung aber entbehrt einer demokratischen Legitimation.

Nur die für eine begrenzte Zeit Gewählten können in regelmäßigen Abständen zur Rechenschaft gezogen werden. Denn das Wahlvolk kann die Verlängerung des Mandats bei jeder Wahl verweigern und eine neue Regierung legitimieren. Voraussetzung hierfür ist, dass die Gewählten die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen und die Wähler erkennen können, wer für eine Entscheidung verantwortlich ist. In einer funktionierenden Demokratie wird dies durch klare und stabile Regierungsmehrheiten gewährleistet. Die Mitglieder der Bürgerversammlung übernehmen dagegen keinerlei Verantwortung für ihre Entscheidung und können auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Damit würde beim Losverfahren das der Demokratie zugrundeliegende Wechselspiel von Verantwortungsübernahme durch die Regierung und regelmäßiger Überprüfung dieser Herrschaftsausübung durch die Wähler außer Kraft gesetzt.

2. Demokratie ist Diskussion in und mit der Öffentlichkeit

Die durch das Losverfahren zusammengesetzte Bürgerversammlung trifft so der Vorschlag ihre Entscheidungen autonom ohne irgendeinen Einfluss von außen. Eine öffentliche Diskussion mit den Mitgliedern vor und nach ihren Entscheidungen findet nicht statt.

Zum Wesen der Demokratie gehört aber, dass grundsätzlich politische Entscheidungen öffentlich diskutiert werden und sich die Gewählten dieser Diskussion stellen müssen, sowohl vor wie nach einer solchen Entscheidung. Demokratie ist Diskussion hat schon der Philosoph Masaryk prägnant formuliert. Meinungs- und Medienfreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sind deshalb tragende Säulen einer Demokratie.

Auch dieses Wesenselement von Demokratie würde durch die per Los bestimmte Bürgerversammlung außer Kraft gesetzt.

3. Langfristig gefährdet ein Losverfahren die Demokratie

Schließlich kann Demokratie auf Dauer nur funktionieren, wenn es genügend Demokraten gibt, die sich nicht nur für ihre privaten Dinge interessieren, sondern sich auch um die Belange des Gemeinwesens kümmern. Die Weimarer Republik ist vor allem daran zugrunde gegangen, dass es zu wenig Demokraten gab, so dass die Demokratiefeinde die Herrschaft übernehmen und die Demokratie abschaffen konnten.

Eine Demokratie muss deshalb Möglichkeiten und Anreize bieten, sich an ihr zu beteiligen. Wahlen sind da das vornehmste Mittel. Darüber hinaus gibt es viele weitere Möglichkeiten. Sie reichen vom Bürgerbegehren über Petitionen an das Parlament bis hin zur persönlichen Ansprache der Abgeordneten in ihren Sprechstunden.

Wenn durch das Los zusammengesetzte Bürgerversammlungen die Entscheidungen treffen, fallen alle diese Möglichkeiten der Beteiligung und Einflussnahme weg. Damit entfielen aber wesentliche Anreize, sich demokratisch zu engagieren. Das würde langfristig dazu führen, dass sich immer weniger Menschen für Politik und die Belange des Gemeinwesens interessieren. Die Demokratie würde die notwendigen Demokraten verlieren.

Athen nicht mit modernen Demokratien vergleichbar

Auf ein Argument der Befürworter des Losverfahrens muss noch eingegangen werden. In Athen und den italienischen Stadtstaaten der Renaissance war das Losverfahren zur Besetzung von Ämtern üblich. Und für Aristoteles war nur das Losverfahren wirklich demokratisch. Diese Begründung verkennt jedoch den entscheidenden Unterschied von damals und heute.

In den vergleichsweise kleinen Gemeinden hatte das Losverfahren vor allem das Ziel, denen, die sich freiwillig um Ämter bewarben, die Chance zu eröffnen, ein Amt auch einmal zu bekleiden. Die Amtszeit dauerte deshalb nur ein Jahr und keiner durfte mehr als zweimal in seinem Leben dieselbe Funktion ausüben.

Bei 62 Millionen Wahlberechtigten ist es illusorisch, bei einem Losverfahren überhaupt einmal im Leben Mitglied einer Bürgerversammlung von 1000 Personen zu werden. Die damalige Zielsetzung des Losverfahrens macht daher heute keinen Sinn. Athen, „die Wiege der Demokratie“, das übrigens besonders wichtige Ämter wie den Heerführer oder den Schatzmeister der Kriegskasse durch Wahlen besetzte, taugt daher in keiner Weise dazu, heute wieder das Losverfahren für unsere Demokratie zu propagieren.

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