Konstituierende Sitzung des 20. Deutschen Bundestags - Schäubles Ermahnung

Als dienstältester Parlamentarier hat Wolfgang Schäuble die erste Sitzung des neuen Bundestags eröffnet. Der 79-Jährige gab sich weise und gelassen, sprach aber gleich mehrere heikle Themen an: Klima-Aktivismus, Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Und eine (höchste) Gerichtsbarkeit, die sich immer mehr Kompetenzen herausnimmt.

Alterspräsident Wolfgang Schäuble während der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestags / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Es dürfte Wolfgang Schäubles letzter großer Auftritt vor dem Parlament gewesen sein, als er an diesem Dienstag die konstituierende Sitzung des 20. Deutschen Bundestags leitete. Er tat dies natürlich nicht in seiner Funktion als scheidender Bundestagspräsident, sondern als dienstältester Abgeordneter – weswegen gleich zu Beginn der Debatte die AfD-Fraktion beantragt hatte, zum status quo ante zurückzukehren. Vor vier Jahren war die Geschäftsordnung des Bundestags bekanntlich dahingehend geändert worden, dass nicht mehr das Lebensalter ausschlaggebend dafür ist, wer als „Alterspräsident“ die erste Sitzung leitet, sondern die Jahre der Zugehörigkeit zum Bundestag. Damit sollte, wie auch diesmal, ein Auftritt Alexander Gaulands verhindert werden – der AfD-Politiker ist zwar ein Jahr älter als Schäuble, kam aber erst 2017 erstmals in den Bundestag (Schäuble bereits 1972).

Kurzum: Der AfD-Antrag wurde gegen deren Stimmen von allen anderen Parteien abgelehnt. Für hörbaren Unmut hatte zuvor der Erste parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, gesorgt, als dieser in einer Rede anmerkte, die Tradition des „Alterspräsidenten“ im hergebrachten Sinne sei schon einmal durchbrochen worden, nämlich 1933 zugunsten Hermann Görings. Ob die anderen Fraktionen sich diese Vorgehensweise zu eigen machen wollten, lautete die provokante Frage Baumanns, „um den legitimen Alterspräsidenten Alexander Gauland zu verhindern“. Baumann sprach von einer „Herabsetzung von Millionen Wählern“. Carsten Schneider, Erster parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, erinnerte in seiner Replik daran, dass die Geschäftsordnung vor vier Jahren mit einer großen Mehrheit des Bundestags entsprechend geändert worden sei und verbat sich Vergleiche zur Nazi-Zeit. Er könne sich „keinen besseren Alterspräsidenten vorstellen als Dr. Wolfgang Schäuble“, so Schneider.

Brisante Akzente

Schäuble selbst setzte in seiner Eröffnungsrede gleich mehrere Akzente, die nicht ohne Brisanz waren. Zunächst ermahnte er das Parlament, sich in der anstehenden Legislaturperiode zu einer Wahlrechtsreform durchzuringen, die „ersichtlich keinen Aufschub“ vertragen könne. Der Bundestag ist mit 736 Abgeordneten so groß wie nie; der Arbeitsfähigkeit des Parlaments ist dies nach mehr oder weniger einhelliger Meinung abträglich. Er selbst, so Schäuble, habe sich in Sachen Wahlrecht vergeblich um eine Reform bemüht.

Danach wagte sich der 79-Jährige immer weiter vor auf vermintes Terrain. Zunächst noch recht allgemein, indem er daran erinnerte, der Bundestag sei der Ort, an dem „die Vielfalt an Meinungen offen zur Sprache kommen“ und die „Faszination großer strittiger Debatten“ gepflegt werden sollte. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber in Zeiten der grassierenden „Cancel Culture“ erodiert fast täglich das Bewusstsein dafür. Ein Umstand, der auch Schäuble offenbar sehr umtreibt, der von einem „Drang nach Konformität“ sprach und von der Tendenz, andere Meinungen nicht mehr zuzulassen.

Womit auch schon die Kurve in Richtung jener Klimaaktivisten genommen war, die mit „Streiks“ und Forderungskatalogen derzeit versuchen, massiven Druck auf die Politik auszuüben und ihre Ziele verabsolutieren. Es sei jedenfalls „keine Politik“, wenn man seine Agenda „absolut“ setze, mahnte Schäuble offenbar in Richtung der namentlich nicht erwähnten „Fridays for Future“-Gruppen und ergänzte, dass auch „wissenschaftliche Erkenntnisse“ als solche noch kein politisches Programm seien. Bei den Grünen regte sich in diesem Moment kein Widerspruch, wiewohl FFF durchaus zu den Vorfeldorganisationen dieser Partei gezählt werden kann.

Mahnung an die Gerichtsbarkeit

Ebenfalls bemerkenswert waren Schäubles Ermahnungen an die deutsche Gerichtsbarkeit mit den Worten, die Rechtsprechung gehe „teilweise bis an die Grenzen ihres Mandats“. Das kann, ja muss geradezu als Seitenhieb auf das Bundesverfassungsgericht verstanden werden, welches sich seit einiger Zeit – etwa mit seinem „Klimaschutz-Urteil“ – immer weitreichendere Kompetenzen herausnimmt. Dass mit dem ehemaligen Parlamentarier Stephan Harbarth ausgerechnet ein Parteifreund Schäubles dem Bundesverfassungsgericht vorsteht, sei hier nur am Rande bemerkt.

Nicht zuletzt ließ Schäubles Mahnung an die Bundestagsabgeordneten aufhorchen, sich für einen stärkeren Zusammenhalt Europas einzusetzen – wozu es gehöre, auch „die anderen zu verstehen und zu respektieren“. Schäuble erwähnte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Länder Ost- und Mitteleuropas, denen gegenüber die Bundesrepublik eine Mittlerrolle einnehmen solle. Dies dürfte insbesondere vor dem Hintergrund des aktuellen Rechtsstreits der EU-Institutionen mit Polen so zu verstehen sein, dass jetzt nicht noch mehr Öl ins Feuer gegossen werden sollte. Auch in Ungarn dürfte man Schäubles Sätze mit Interesse zur Kenntnis genommen haben.

Die neu ins Parlament gewählten Abgeordneten erinnerte Wolfgang Schäuble daran, dass sie nicht nur Repräsentanten ihres jeweiliges Elektorats seien, sondern „Vertreter des ganzen Volkes“. Aufgabe des Bundestags sei es, „Interessen zu bündeln“. Gesellschaftliche Gruppen könnten eben nicht immer nur „durch ihresgleichen“ vertreten werden. Ob die Neu-Parlamentarier, die vielfach aus aktivistischen Szenen stammen und nun erstmals dem Parlament angehören, diese Mahnung des Alterspräsidenten auch verstanden haben, wird sich in den nächsten vier Jahren zeigen. Schäuble jedenfalls hat an diesem Dienstag die richtigen Worte gefunden.

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