Gastarbeiter erster Generation - „Die Akzeptanz für gut integrierte Türken sinkt“

Der Berliner Gemüsehändler Durmus Cakmak spricht darüber, warum er heute noch immer kein perfektes Deutsch spricht. Und warum es seinen Söhnen und Enkeln trotzdem schwerer fällt als ihm, sich zu integrieren. Auch die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sei dafür ein Grund

Türken am 24.7.1970 auf dem Düsseldorfer Flughafen / picture alliance
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Herr Cakmak, Sie kamen 1971 als Gastarbeiter nach Deutschland. Sie leben immer noch hier. Fühlen Sie sich immer noch als Gast?
Nein, ich lebe jetzt seit 49 Jahren hier, mehr als doppelt so lange als vorher in der Türkei. Ich bin kein Gast. Ein Gast ist jemand, der für ein paar Wochen oder Monate Urlaub im Ausland macht.

Dann ist Deutschland jetzt Ihre Heimat?
Natürlich, hier habe ich mein Leben aufgebaut, hier leben meine Kinder und Enkelkinder und meine Freunde. Alles, was mir wichtig ist, ist hier.

Dass sie aus der Türkei gekommen sind, spielt keine Rolle mehr?
Nein, das war nur am Anfang so, als ich nach Deutschland kam. Heute fragt keiner mehr, woher ich komme. Wen interessiert das denn noch. Meine Freunde kommen aus der ganzen Welt.  

Halten Sie Ihr Beispiel für typisch?
Nein, ich kenne viele Gastarbeiter, die wieder zurückgegangen sind in die Türkei. Viele von denen waren sehr arm. Die sind nur gekommen, um Geld für ein Haus in ihrem Dorf zu sparen.

Waren Sie nicht arm?
Nein, ich habe als diplomierter Schlosser schon in der Türkei sehr gut verdient – doppelt so viel wie ein Grundschullehrer. Mich hat die Arbeit allein aber noch nie ausgefüllt. Ich habe schon als Kind gern Theater gespielt. Ich komme aus einer armen Familie vom Dorf. Für mich interessiert sich keiner. Aber auf der Bühne werde ich gesehen. Über das Theater habe ich auch in Deutschland viele Freunde gefunden.  

Als Sie mit 21 Jahren kamen, konnten Sie kein Deutsch. Wie ging das?
Ich habe am Anfang nur auf türkisch Theater gespielt. Es gab einen türkischen Arbeiterverein, der hat an den Wochenenden ein Kulturprogramm für uns organisiert. Das Deutsch habe ich mir selbst beigebracht. Es geht viel über Mimik und Theatralik. Und es ist wichtig, dass du freundlich bist.  

Durmus Cakmak / Privat

Aber heute ist Ihr Deutsch immer noch nicht perfekt.
Das sagt meine 24-jährige Enkelin auch immer. „Opa, dein Deutsch ist komisch! Nur auf der Bühne sprichst du perfekt.“ Ich sage dann immer, wenn ich es jetzt nochmal lernen würde, wäre es schwerer als vorher. Dieses komische Deutsch ist drin in meinem Kopf. Ich krieg das da nicht wieder raus. Das schwierigste sind die Artikel. Der, die, das.  

Was hat Sie eigentlich ausgerechnet nach Deutschland verschlagen?
Das war ein Zufall. Ich wollte mit 21 eigentlich nach Frankreich, weil französisch meine erste Fremdsprache in der Schule war. Ich wollte mich vor dem Militärdienst drücken. Aber als ich im Arbeitsamt in Istanbul war, traf ich deutsche Firmen, die haben dringend Handwerker gesucht. Und da ich als Schlosser an deutschen Geräten ausgebildet worden war, haben die gleich gesagt: Komm mit.
 
Mussten Sie gar keine Tests machen?
Nein, meine Zeugnisse haben denen gereicht. Ich hatte ja ein Diplom. Viel schlimmer war, was nach dem Vorstellungsgespräch geschah.  

Was meinen Sie damit?
Am zweiten Tag mussten wir uns in einem Hotel vorstellen. Diesmal war ein Mann in einem weißen Kittel dabei, ein deutscher Arzt. Wir mussten uns komplett ausziehen, auch die Unterhose. Er hat uns überall reingeguckt, in den Mund, in die Ohren – und auch in den Hintern.  

Wieso das denn?
Das frag ich mich auch. Ich war ein kerngesunder Kerl von 21 Jahren. Die haben sich ihre Gastarbeiter aber sehr genau ausgesucht. Zunge raus, Zunge rein. Wenn Du eine Plombe im Zahn hattest, warst du schon raus.

Was haben Sie gedacht?
Ich musste an den Esel denken, den mein Vater mal gekauft hat. Dem hat er vorher auch ins Maul geschaut. Genauso kam ich mir auch vor. Als wäre ich kein Mensch, sondern Vieh.

Die meisten Gastarbeiter waren Muslime. Hat von denen gar keiner protestiert?
Nein, ich denke, das hat sich keiner getraut. Wir haben uns eingeredet, in Deutschland macht man das so. Die Ärzte sind dort besonders gründlich.

Sie sind kein Muslim?
Nein, ich bin Alevit. Unsere Religion hat ihre Wurzeln im Schamanismus. Ich sage immer, ich habe zwei Götter. Der eine versteht sich blendend mit Jesus und mit Mohammed. Der andere sagt immer: Durmus, reiß Dich zusammen!

Macht es die Integration schwerer, wenn man gläubiger Moslem ist?
Es gibt verschiedene Strömungen im Islam. Man kann diese Frage nicht mit ja oder nein beantworten. Ich glaube, dass Probleme bei der Integration in erster Linie eine Folge mangelnder Bildung sind.

Was war Ihr erster Eindruck von Deutschland?
Ein „Rauchen-Verboten-Schild“ in dem Bus, der uns vom Flughafen Tempelhof ins Wohnheim nach Spandau gebracht hat, gegenüber vom Kabelwerk. Ich konnte die Schrift nicht lesen, aber an der durchgestrichenen Zigarette habe ich es erkannt. Ich hab einem Kumpel gesagt, er soll die Zigarette ausmachen. Ich wollte nicht, dass es schon am Anfang Ärger gibt.  

Deutschkurse für Zuwanderer gab es damals noch nicht. Wie ist das, wenn man sich in einer fremden Welt bewegt und kein Wort versteht?
So, als wäre man krank. Meine Maschine in der Fabrik hat nicht mit mir gesprochen. Menschen brauchen aber Ansprache. Ich habe in den ersten Zeit nur mit anderen Türken gesprochen. So entstehen Ghettos. Ich bin deshalb schnell aus dem Wohnheim ausgezogen. Ich wollte deutsch lernen.  

War das der einzige Grund?
Nein, einmal die Woche kam eine Frau ins Heim. Für zehn Mark ist die mit allen Männern ins Bett gegangen. Ich wollte das nicht. Das haben die anderen nicht akzeptiert.

Wie schwer war es für Sie, sich allein im Alltag zurechtzufinden?
Ach, das ging eigentlich. Ich komme schnell mit Leuten ins Gespräch. Und ich bin Handwerker. Wenn einer Hilfe braucht, helfe ich. Zum Beispiel habe ich meinem Apotheker das Schloss repariert. Hätte er eine Firma beauftragt, hätte es 1.700 Mark gekostet. Ich habe es für umsonst gemacht. Er wollte mir 200 Mark geben. Ich hab 50 genommen.

Ist das diese Bringschuld, die viele Deutsche von den Zuwanderern heute einfordern?
Mir egal, wie Ihr das nennt. Bei uns im Dorf hat jeder jedem geholfen hat. Anders ging es nicht. Wenn dein Haus brennt, kannst du nicht warten, bis die Feuerwehr kommt. Es gibt keine Feuerwehr. Jeder muss mithelfen, zu löschen.

Haben Sie sich nie als Bürger zweiter Klasse gefühlt?
Nein, solange Du nicht zum Sozialamt musst, ist das alles kein Problem. Erst wenn Du Hartz IV brauchst, giltst Du als Mensch zweiter Klasse.

Ihre drei Söhne sind in Deutschland aufgewachsen. Haben sie es leichter gehabt als Sie?
Nein, sie haben mehr Probleme.

Warum?
Sie verstehen alle Schimpfworte, die ihnen die Deutschen um die Ohren hauen. Sie antworten sofort. Sie werden schnell aggressiv.

Aber ist es nicht grundsätzlich ein Vorteil, die Sprache des Landes zu sprechen, in dem man lebt?
Schon. Als Kinder habe ich alle drei auch gleich in einen evangelischen Kindergarten geschickt, obwohl sie nicht getauft sind. Einer hat sogar am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen. Heute sind sie berlinerischer als viele Berliner. Aber die Sprache ist es nicht allein. Sie sind nicht blond. Sie sehen nicht deutsch aus. Und das ist das Problem.

Warum?
Es gibt nette Türken, und es gibt nicht so nette Türken. Das ist dasselbe wie mit den Deutschen. Viele mögen aber keine Türken, weil sie schlechte Erfahrungen mit den nicht so netten Türken gemacht haben. Sie lassen meine Söhne spüren, dass sie Ausländer sind. Und darunter leiden sie.

Sie nicht?
Nein, ich weiß, wer ich bin. Ich habe seit 1992 einen deutschen Pass. Ich reise jetzt viel. Es ist einfach leichter, Touristen-Visa damit zu bekommen. Der Pass hat mich 2.000 Mark gekostet. Es gab darüber einen riesigen Streit in der Familie.  

Warum?
Meine mittlerweile verstorbene Frau hat gesagt: „Aber wir sind doch Türken.“ Sie wollte, dass wir als Rentner zurückgehen in die Türkei. Und meinen Söhnen war der Pass damals zu teuer. Sie sind bis heute hin- und hergerissen zwischen der deutschen und der türkischen Kultur. Sie fühlen sich weder hier noch dort richtig zu Hause. 

Alle drei haben türkische Frauen geheiratet. Ist das nicht ein klares Statement?
Ich misch mich da nicht ein. Sie sind erwachsen. Jeder sollte den heiraten, den er liebt. 

Werden sie damit nicht noch mehr ausgegrenzt?
Kann man sich gegen diese Ausgrenzung wehren? Ich war neulich in der Karl-Marx-Straße in Berlin- Neukölln. Mir kamen fünf Männer entgegen, die laut arabisch gesprochen haben. Glauben Sie, die hätten Platz für mich gemacht? Nein, ich musste ausweichen. Solche Männer sind Schuld daran, dass die Akzeptanz für gut integrierte Türken sinkt.

Ist daran auch die Bundesregierung Schuld?
Ja, sie lässt alle Leute ins Land, auch solche, die sagen, sie kämen aus dem syrischen Bürgerkrieg. Aber viele kommen gar nicht aus Syrien. Für sie ist Deutschland so etwas wie ein Urlaubsparadies. Und viele sind durch das, was sie im Krieg erlebt haben, völlig gestört. Wegen dieser Leute haben es meine Söhne schwer.

Und was ist mit Ihrer Enkelin?
Sie hat mich neulich gefragt, ob ich sie nicht mit dem Auto zur Uni fahren könnte.

Warum?
Arabische Jungs hatten sie belästigt. Manchmal frage ich mich: Wo soll das noch hinführen?

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