Debakel bei Impfstoff-Beschaffung - Satt, müde und phantasielos

Deutschland macht auch in der Pandemie Dienst nach Vorschrift, wie das aktuelle Impfstoff-Debakel zeigt. Israel dagegen demonstriert eindrücklich, wie es besser funktioniert. Höchste Zeit, dass die Deutschen ihre Luxustour beenden und wieder lernen, effizient zu sein.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei seiner Corona-Impfung am 19. Dezember / picture alliance
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Autoreninfo

Rafael Seligmann, Jahrgang 1947, ist Historiker, Journalist und Schriftsteller. Er lehrte an der Ludwig-Maximilian-Universität Strategie und Sicherheitspolitik. In Kürze erscheint sein Buch „Brandstifter und Mitläufer. Hitler, Putin, Trump“ im Verlag Herder.

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Das deutsche Gesundheitssystem versagt in der Pandemie. Es ergeht ihm ähnlich wie der Fußballmannschaft Real Madrid: Man besitzt eine glorreiche Vergangenheit, hervorragende Spieler, bewährte Experten, einen ausgewiesenen Trainer, bzw. eine Trainerin, unvorstellbar viel Geld und noch mehr Schulden. Alle Voraussetzungen für Spitzenleistungen sind gegeben. Doch aus einem scheinbar unerklärlichen Grund erzielt man nur dürftige Ergebnisse. Der entscheidende Unterschied: Wenn die Königlichen verlieren, jammern die Fans und der Präsident beißt in den Teppich – wenn das deutsche Gesundheitssystem „ruckelt“, also zu wenig leistet, sterben unnötig viele Menschen. Die verantwortlichen Politiker geben wortreiche, doch nichtssagende Erklärungen ab. Dieser Missstand ist nicht hinnehmbar, denn es ist kein Spiel, sondern ein Kampf um Leben und Tod.

Wenn ich mit meinen israelischen Freunden über den Corona-Notstand hierzulande spreche, ernte ich Unverständnis. „Der Impfstoff von Pfizer ist in eurer Firma Biontech entwickelt worden. Ihr habt die besten Intensivstationen, die meisten Betten pro Bewohner, hervorragende Ärzte und Krankenpersonal. Warum seid ihr dann nicht fähig, eure Bevölkerung mindestens so schnell durchzuimpfen wie wir?“

Permanente Bedrohung

In Israel ist die Regierungskoalition geplatzt. Die vierten Neuwahlen in zwei Jahren stehen an. Premier Benyamin Netanyahu ist wegen Korruption angeklagt. Die Corona-Pandemie drohte aus dem Ruder zu laufen. Doch die Israelis wissen mit Kriegen, Terror und Krisen umzugehen. Bereits im Moment der Staatsgründung im Mai 1948 wurde das Land von den Armeen aller seiner arabischen Nachbarstaaten attackiert. Seither haben die Israelis unzählige Waffengänge und Anschläge durchgemacht. Sie wurden angegriffen und sind selbst in die Offensive gegangen. Zum Dasein als Israeli gehört die permanente Bedrohung. Da entwickelt man aggressive Überlebensstrategien und lernt, ständig zu improvisieren. 

Als bestes Armee-Corps gilt die Einheit 8200, zuständig für elektronische Kriegsführung. Hier bleibt keine Zeit für Theorie, unverzügliche praktische Lösungen sind gefragt. Der Geist des wirksamen und schnellen Machens beherrscht das Land. So wurde Zion zur erstrangigen Start-Up-Nation. Mit dieser Einstellung gingen Regierung und Gesundheitssystem, Krankenhäuser und Ärzte gemeinsam die Corona-Seuche an. Die Bevölkerung ist vielfach undiszipliniert. Nicht alle beachten die Abstand-und-Maske-Regeln. Daher muss die Israelis möglichst schnell vollständig gegen das Virus geimpft werden. Getreu dem Talmud-Lehrsatz: „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

Weltrekord beim Impfen

So kaufte die israelische Regierung auf dem Weltmarkt zum überhöhten Preis den Pfizer-Biontech-Impfstoff in einer Menge, die für die gesamte Bevölkerung ausreichte. Wenn es um Menschenleben geht, wird nicht geschachert. Gleichzeitig wurden mit maximaler Geschwindigkeit Impfzentren im ganzen Land aus dem Boden gestampft. Sie sind rund um die Uhr geöffnet. Auch am heiligen Schabbat. Wiederum gilt, Menschenleben hat Vorrang. Auf diese Weise erreicht der Neun-Millionen-Staat eine Kapazität von 150.000 Impfungen täglich. Die Zulassung erfolgte zugleich mit der US-Arzneimittelbehörde FDA. Und los ging’s! In wenigen Tagen wurden eine Million Menschen gegen das Corona-Virus in Israel geimpft. Das ist Weltrekord.

Im gleichen Zeitraum wurde in Deutschland mit seinen 83 Millionen Menschen gerade mal 250.000 Personen der Impfstoff gespritzt. Aber genau nach Plan. Zuerst die über 80-Jährigen und das medizinische Personal. Dann sollen die über 70-Jährigen folgen. Bei diesem Tempo wird es bis in den Herbst dauern, bis eine Herdenimmuinität erreicht ist. Warum geht dies im Schneckentempo voran?, fragte ich eine Ärztin im Gesundheitsamt – ohne den Vergleich mit Israel zu erwähnen. „Weil in Deutschland alles regelkonform seinen bewährten Weg geht!“ 
„Auch im Notfall?“ 
„Da erst recht!“
Eine Reihe von Medizinern hat vergeblich den Impfstationen angeboten, unentgeltlich mitzuarbeiten. Ihre Offerte wurde zurückgewiesen. Es fehlt an Impfstoff und Plänen.

Brav so, Deutschland! 

Das deutsche Glück, nach der bedingungslosen Niederlage im Zweiten Weltkrieg eine historisch beispiellose 75-jährige Phase des Friedens erleben zu dürfen und sich in dieser Zeit einen nie gekannten Wohlstand zu erarbeiten, hat die Teutonen satt, müde und phantasielos gemacht. Krieg, erst recht Pandemie, kennt faktisch kein Entscheidungsträger. Man meint, alles mit maximaler Sicherheit und Regelung betreiben zu müssen. Der Schutz der Olme ist wichtiger als der Aufbau der europäischen Tesla-Fabrik.

Vor allem aber ist man der Musterknabe Europas. Die Zulassung des in Deutschland von einem Werk unter der Leitung eines deutsch-türkischen Ehepaares entwickelten Impfserums muss warten, bis Malta und Zypern ihr OK gegeben haben. Man hat sich eine Woche länger Zeit gelassen als US-Amerikaner und Briten. Brav so. Doch in dieser Zeit hätte man mit Impfungen tausende Menschenleben retten können. Erst dann wird  nach bewährtem 08/15-Manier begonnen, das Serum zu verabreichen.

Diese Luxustour muss ein Ende haben! Je schneller desto besser. Wir benötigen im Alltag glücklicherweise keine alarmistische Mentalität wie die kampferprobten Israelis. Aber Corona-Zeiten erheischen keine Normalität. Jetzt muss mit aller Kraft gehandelt werden. Ausreden gelten nicht. Effizienz ist wichtiger als die haargenaue Beachtung der letzten Vorschrift und des EU-Gänsemarsches. Da ist Wirksamkeit gefragt. Schnelligkeit ist keine Hexerei, sondern unverzichtbar.

Not kennt durchaus ein Gebot. Es gilt, Menschenleben zu retten. Auch um einen hohen Preis. Der Witz: „Die Juden haben gelernt, Krieg zu führen und die Deutschen Geschäfte zu machen“, gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Nachkriegsdeutschland muss erwachsen werden und lernen, in der Krise verantwortungsbewusst zu handeln.

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