70 Jahre Grundgesetz - „Der Text ist pures Gold“

Das Grundgesetz wurde vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, unterzeichnet, einen Tag später trat es in Kraft. Der Journalist Oliver Wurm hat aus dem für jedermann frei zugänglichen Gesetzestext ein kostenpflichtiges Magazin gemacht – und damit unheimlichen Erfolg. Wie konnte das passieren?

Bundeskanzler Konrad Adenauer bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 / picture alliance
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Herr Wurm, Sie sind von Haus aus Sportjournalist. Gerade haben wir im Fußball-Europapokal begeisternde Spiele erlebt. Doch Sie haben es offenbar geschafft, Begeisterung für ein eher trockenes Thema zu wecken, indem Sie das Grundgesetz als Magazin herausgebracht haben. Was ist da los?
Das ist eine Überleitung, die Gerhard Delling nicht besser hingekriegt hätte. Tatsächlich erwischen Sie mich in einer Hochstimmung, von der ich nicht erwartet hätte, dass ich sie rund um das Grundgesetz-Projekt einmal derart spüren würde. Mit dem Magazin liegen wir bei Amazon auf Platz 1 aller bestellten Buchartikel. Und ich bin guter Hoffnung, dass es während der Feierlichkeiten zu 70 Jahre Grundgesetz zumindest bei einem Spitzenplatz bleiben wird. Das Besondere: Das Magazin wird sowohl von älteren als auch von jüngeren Leuten gekauft. Wir bekommen Bestellungen von Schulen wie von Seniorenstiften, von Menschen über alle gesellschaftlichen Schichten und über alle Altersklassen hinweg. Offenbar haben wir da eine Nerv getroffen und es geschafft, dass viele Menschen nun sagen: „Ach komm, jetzt lese ich das auch mal.“

Ein schöner unternehmerischer Erfolg für Sie.
Mit dem ich in der Form überhaupt nicht gerechnet habe. Einen 70 Jahre alten Text zu drucken, der für jeden frei und kostenlos zugänglich ist, in diese Idee vorab einen sechsstelligen Betrag zu investieren, um 100.000 Exemplare an die Kioske zu geben – nicht wenige haben mich für verrückt erklärt. Und natürlich habe ich auch ein wenig gezittert. Damit in die schwarzen Zahlen zu kommen, war kein Selbstgänger. Aber mein Gefühl sagt mir: Die eigentliche Welle startet jetzt erst. Und mit den bisherigen Verkaufserfolgen können wir nun auch was zurückgeben. Ich habe zahlreiche Exemplare an soziale Einrichtungen verschenkt und allen Schulen angeboten, Klassensätze zum halben Preis zu erwerben.

Nun ist das Grundgesetz plötzlich in aller Munde, mehr als man es vermutet hätte zu diesem 70. Geburtstag. Dieser Text scheint die Leute auf einmal unheimlich zu interessieren, wofür ja auch der Erfolg ihres Magazins spricht. Woher kommt das?
Es ist vielleicht eine etwas kühne These von mir, aber ich glaube schon, dass unser Magazin-Projekt einen großen Teil zu dieser neu entfachten Begeisterung beigetragen hat. Nachdem wir damit auf den Markt kamen, haben ganz viele Medien berichtet. Auch auf social media war das Magazin Thema. Daraus ist so ein kleiner Kult entstanden. Ich will das nicht mit dem Zauberwürfel aus den achtziger Jahren vergleichen oder mit einer Serie wie „Game of Thrones“ – aber wenn plötzlich sehr viele über ein und dasselbe reden, und in diesem Fall ja sogar schwärmen: Dann entsteht eine Neugierde, eine Begehrlichkeit. So ist ein kleiner Kult um die Verfassung entstanden. Und dann kommt eben noch hinzu, dass es einen runden Geburtstag zu feiern gibt. Und – vielleicht spielt auch das hinein: Wir erleben politisch unruhige Zeiten. Mit einem weltweit aufkommenden politischen Populismus von links und rechts und einer unerträglichen Lautstärke im Netz. Da suchen vielleicht viele Menschen auch nach Halt, nach Orientierung. Beides bietet ihnen das Grundgesetz.

Das kann man aber auch umsonst haben. Tatsächlich muss man nur kurz googeln, dann hat man den gesamten Text. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung lässt sich das Grundgesetz kostenlos bestellen. Warum geben Leute für Ihr Magazin zehn Euro aus?
Mit ist es tatsächlich wichtiger, dass die Leute überhaupt das Grundgesetz lesen, als dass sie unser Magazin kaufen. Aber ich denke, vielen Leuten geht es so wie mir, als ich das Grundgesetz Ende 2017 auf dem von Ihnen skizzierten Weg kostenlos bestellt habe. Man bekommt da ein kleines Heftchen, dünnes Papier, winzige Schrift, alles sehr mühsam zu konsumieren – mir hat das nicht gereicht. Mich hat das auf Deutsch gesagt nicht angemacht. Wohlgemerkt: die Verpackung. Ich bin Magazin-Junkie, ein Printliebhaber. Der Designer Andreas Volleritsch und ich gestalten seit vielen Jahren mit dem Einsatz von aufregender Typo- und Fotografie Kiosk-Hefte. Die ansprechende Gestaltung ist immer der Schlüssel für den Erfolg. Andreas hat es geschafft, dass man den schweren, langen Verfassungstext fast spielerisch leicht lesen kann. Das Grundgesetz in Häppchen, jeden Tag ein bisschen. Ein Freund hat mir eine SMS geschickt: „Ich lese gerade euer Magazin auf der Toilette.“ Ganz ehrlich: Jetzt weiß ich – wir haben es geschafft. Übrigens steigen auch die Abrufzahlen bei den kostenlosen Angeboten. Wir sind daran sicher nicht unschuldig. Und dagegen habe ich auch überhaupt nichts. So ist es eine Win-Win-Situation für alle. Vor allem für das Grundgesetz.

Wie sind Sie denn auf diese vermeintlich verrückte Idee gekommen?
Beim Fernsehgucken. Im November 2017 schwärmte Rangar Yogeshwar bei „Markus Lanz“ über unsere Verfassung. Und am Ende sagte er: „Das Grundgesetz ist die Nation. Es ist schön! Jeder sollte es mal lesen.“ Noch in der Nacht habe ich es mir dann bestellt. Und als ich es gelesen habe, wurde mir bewusst, wie frisch dieser 70 Jahre alte Text ist, wie schön und klar die Sätze formuliert sind. Ich entwickle seit vielen Jahren eher ungewöhnliche Print-Magazine, habe 2011 sogar mal den vollständigen Text des Neuen Testaments an den Kiosk gebracht. Ich denke, es war an der Zeit, auch das Grundgesetz mal auf diese Weise zu entstauben, damit man es wieder neu entdecken kann. Denn der Text ist pures Gold. Und wenn es uns gelungen ist, dieses Gold wieder etwas mehr zum Glänzen zu bringen, freut uns das natürlich.

Oliver Wurm (re.) und Designer Andreas Volleritsch / Lars Krul

Wie sind Sie dann bei der Konzeption vorgegangen? Manchmal gibt es seitenweise Text, manchmal steht nur ein Satz auf einer Seite. Wie haben sie entschieden, welche Sätze so hervorgehoben werden sollten?
Ich meine nicht, dass jetzt jeder das Grundgesetz wie ein Buch vollständig lesen muss. Es ist ja auch in weiten Teilen einfach auch sehr trocken, ein Gesetzestext eben. Niemand muss alles über das Finanzwesen wissen oder über die Regelung der Bundespost. Aber elementare Spielregeln wie die 19 Grundrechte oder der Absatz zur richterlichen Unabhängigkeit – die sollte man sich schon mal anschauen. Deshalb haben wir diese Passagen auch optisch herausgearbeitet. Wie wir vorgegangen sind? Ich habe selbst mit einem Textmarker beim ersten Lesen alle Passagen markiert, die mir wichtig erschienen. Dann hat Andreas übernommen und damit weiter gearbeitet und gestaltet. Später haben wir auch unseren Freundeskreis hinzugezogen, darunter auch Juristen und Kollegen aus der politischen Szene in Berlin. Wir gehen auch nach wie vor auf Ideen und Korrekturvorschläge, was die Gewichtung betrifft, von außen ein. Der Text lebt, soll beweglich bleiben. So können wir auf auch aktuelle Themen eingehen, wie die aktuelle Diskussion zum Thema Enteignung. Was sagt das Grundgesetz zum Schutz der eigenen Wohnung? Wir werden es im nächsten Druck herausstellen. 

Was einem beim Blättern darin überrascht, sind die Deutschland-Bilder aus dem Weltraum, aufgenommen vom Astronauten Alexander Gerst. Wie kam es dazu?
Wir haben lange nach der passenden Bebilderung gesucht. Zunächst hatten wir klassische, aktuelle Fotos vor jedes Kapitel gestellt: eine Luftaufnahme vom Reichstag, Frank-Walter Steinmeier, Angela Merkel…  Aber die Aktualität wirkte irgendwie in diesem Zusammenhang zu gewöhnlich. Im „Heute Journal“ sah ich dann einen Beitrag mit dem Astronauten Alexander Gerst. Ich bin ihm dann auf den sozialen Netzwerken gefolgt, wo er unter dem Namen @astroalex regelmäßig spektakuläre Aufnahmen der Erde postete. Darunter eines Abends ein Bild von Europa bei Nacht, zu dem er schrieb: „Wenn nachts die Lichter leuchten, dann sieht man, dass Europa zusammengehört.“ Das hat mich total gepackt. Danach haben Andreas und ich seine gesamten Kanäle durchsucht, auf der Suche nach Motiven von Deutschland von oben. Zum Glück hatte er sehr viele hochgeladen. Angenehmer Nebeneffekt für uns Magazinmacher: Die ESA, also die Europäische Weltraumorganisation, hat uns die Bilder sofort und kostenlos zur Verfügung gestellt.

Auf dem Titel des Magazins steht „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. So fängt das Grundgesetz an und das ist der bekannteste Satz. Auf dem Heft wird der von einem Quadrat umgeben. Was ist der Gedanke dahinter?
Das darf man gerne so interpretieren, dass der Artikel 1 in den Mittelpunkt gerückt ist, dass er von den Linien des Quadrats sinnbildlich geschützt wird, weil er so kostbar ist. Und dass die feinen roten Fäden, an denen das Quadrat aufgehängt ist, eben jene dünnen Fäden sind, an denen Artikel 1 des Grundgesetzes mitunter hängt. Wir sind alle aufgerufen, diese Fäden wieder zu dicken Kordeln anwachsen zu lassen.

Wenn man sich so intensiv mit dem Grundgesetz beschäftigt, gab es da für Sie ein Aha-Erlebnis, einen Abschnitt, den Sie vielleicht so nicht erwartet haben?
Neu war tatsächlich vieles. Aber ein Aha-Erlebnis war insbesondere die Klarheit der Formulierungen, die Schönheit der Sprache. Das erwartet man einfach nicht, wenn man bedenkt, unter welchen Umständen und Einflüssen – und auch in welch kurzem Zeitraum – die Frauen und Männer des Parlamentarischen Rates diesen Text 1948/49 formuliert und beschlossen haben. Auf eine überraschende Art hat mich neben den Grundrechten aber auch Kapitel Xa, der „Verteidigungsfall“, berührt. Wenn da so nüchtern aufgelistet wird, was alles passiert und wie alles geregelt wird, sobald das „Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird“ – da hatte ich beim ersten Lesen schon Gänsehaut. Weil mir noch mal klar wurde, was für ein Glück es eigentlich ist, dass wir hier seit sieben Jahrzehnten in einem friedlichen Deutschland leben. In einem Land, dass fester Bestandteil eines friedlichen, vereinten Europas ist. 

Jürgen Habermas hat den Begriff des „Verfassungspatriotismus“ geprägt. Sind Sie jetzt ein Verfassungspatriot?
Mit diesem Begriff habe ich mich ehrlich gesagt erstmals auseinandergesetzt, als ich in einem Interview danach gefragt wurde. Ich habe zu Beginn gezögert, da ich nicht so recht wusste, wie er eigentlich konnotiert ist. Inzwischen kann ich sagen: Ja, ich stehe vollumfänglich zu den in der Verfassung verankerten Werten, und den „Spielregeln“, die uns unser Grundgesetz für das gesellschaftliche Miteinander mit auf den Weg gegeben hat. Der Spiegel schrieb kürzlich, ich sei ein „emotionaler Verfassungspatriot“ – ich finde, das trifft es sehr gut. 

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