Die Naumann-Stiftung und die Freiheit - Abgecancelt

Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung liefert den vielleicht letzten großen Aufreger des Jahres: Sie cancelt den Moderator einer Podiumsdiskussion über Cancel Culture.

An dieser Online-Diskussion über Cancel Culture von Anfang Dezember entzündete sich der Streit / Screenshot Youtube
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Das vergangene Jahr kannte nur ein großes Thema. Es beginnt mit dem Buchstaben C.

Dafür wurde 2020 aber auch gecancelt, was das Zeug hielt. Höhepunkt war der August: Da löschte die Deutsche Forschungsgesellschaft DFG ein Statement des Satirikers Dieter Nuhr, das sie zuvor selbst bei ihm bestellt hatte. Zeitgleich lud das Hamburger Harbour-Literatur-Festival die Österreicherin Lisa Eckhardt aus, weil sich mehrere Autoren darüber beschwert hatten, dass Eckhart sich rassistischer und antisemitischer Klischees bediene.

Dann der Gegenschlag: Die beiden Journalisten Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser organisieren einen „Appell für freie Debatten“ und sammeln dafür Unterstützung bei den „bad guys“ der Republik: Tübingens OB Boris Palmer ist dabei, die geschmähte Schriftstellerin Monika Maron, aber auch die Undercover-Legende Günter Wallraff. Vorgemacht hatte es die internationale Kultur-Prominenz: J. K. Rowling, Daniel Kehlmann und Noam Chomsky beklagten im Harper’s Magazine eine Verengung der Debattenräume.

Kubicki und Flaßpöhler parlieren

Das alles, so dachte sich wohl die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung, die den Zusatz „für die Freiheit“ im Namen trägt, ist doch wie geschaffen für uns: Wir sind die einzigen wahren Liberalen, uns sind Sprechverbote und Ideologie fremd! Und lud Anfang Dezember zu einer Online-Diskussion, in der die Philosophin Svenja Flaßpöhler und FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki zwei Stunden über die Einengung der Debattenkultur parlierten. Als höflicher Fragesteller fungierte Gunnar Kaiser.

So unspektakulär, so gut. Eine Woche später jedoch schrieb ein Twitter-User namens „Snollyghoster“ an die Naumann-Stifung: „Sagt Ihnen der Name Gunnar Kaiser etwas? Kaiser ist quer abgebogen und nach rechts so weit offen, daß man einen Flugzeugträger darin parken könnte.“ In der Stiftung müssen in diesem Moment Sprinkleranlage und Alarmglocken gleichzeitig angesprungen sein: Snollyghoster attackiert! „Danke für den Hinweis, wir nehmen das ernst und prüfen es!“, schrieb der zuständige Online-Redakteur pflichtbewusst.

Und lieferte drei Tage später das „Mea Culpa“: „Wir haben die Person Gunnar Kaiser aus gegebenem Anlass sehr intensiv überprüft und müssen zur Kenntnis nehmen, dass Herr Kaiser mit rechtspopulistischem und verschwörungstheoretischem Gedankengut arbeitet. Es ist unser Versäumnis, dass wir bei der Auswahl der Moderation einer Empfehlung gefolgt sind und seinen Hintergrund vorher nicht ausreichend geprüft haben. Das bedauern wir und werden Vorsorge treffen, dass so etwas nicht mehr passieren kann!“

Wer ist Gunnar Kaiser?

Es ist urkomisch: Eine Stiftung, die sich „für die Freiheit“ auf die Fahnen schreibt, cancelt den Moderator einer Diskussion über Cancel Culture, den sie selber eingeladen hat, weil „Snollyghoster“ von Flugzeugträgern schreibt. Und anstatt eine detaillierte Erklärung abzugeben, bekommt Kaiser das Brandmal „rechtspopulistisch“ und „verschwörungstheoretisch“ eingebrannt. Hat Gunnar Kaiser das verdient?

Der Philosoph, Kabarettist, Buchautor und ehemalige Lehrer, der sich als libertär bezeichnet, ist ein Selbstdarsteller, der viel dafür tut, um jene Währung zu generieren, die heute mehr als alles zählt: Aufmerksamkeit. Dazu gehört der schon erwähnte Aufruf zusammen mit Milosz Matuschek. Dafür geht er auch da hin, wo es wehtut, zum Beispiel in eine Diskussion, in der er neben Ken Jebsen über Wandel-Wahrheit-Weltverschwörung philosophieren darf.

Er führt durchaus witzige Monologe, etwa den eines Kulturschaffenden, der tränenreich die mangelnde Wertschätzung der Kultur in der Corona-Krise beklagt, unter anderem mit dem Verweis darauf, dass er zwar durchaus ohne Ärzte, nicht aber ohne „Die Ärzte“ leben könnte. In der Corona-Krise wagte er es, den ehemaligen SPD-Politiker und Arzt Wolfgang Wodarg ausführlich zu seinen abstrusen Ansichten zum Virus zu befragen. Das gehört sicher nicht zu Kaisers Sternstunden, aber hey: Er war jung und brauchte die Klicks.

Produktive Grenzgänge und Irrfahrten

Sternstunden dagegen sind es, wenn er sich journalistisch in Gefilde wagt, von denen sich der Mainstream-Journalismus nur angewidert abwendet. Das gilt im Besonderen für seinen zweistündigen Disput mit dem führenden Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung Martin Sellner. War es gerade dieses Video, das die Naumann-Stiftung zum Rotstift greifen ließ? Man weiß es nicht. Aber es wäre fatal.

Denn Kaiser zeigt, wie produktiv solche Grenzgänge sein können (im Gegensatz zum Wodarg-Interview, wo Kaiser als reiner Fragesteller auftritt). Er beweist, dass man sich nicht kontaminiert, dass man nicht zum Nazi wird, wenn man mit Sellner spricht oder sich seine Videos anschaut. Ohne Schaum vor dem Mund entlarvt Kaiser, der sich hier als radikaler Anhänger des Liberalismus positioniert, den Rechtsextremen als das, was er ist. Er führt vor, wozu Verfechter des Liberalismus fähig sein müssen: das Gegenüber nicht zu canceln, sondern voller Selbstvertrauen herauszufordern.

Dass eine Stiftung, die mit dem Geld des Steuerzahlers finanziert wird, weil sie für eben diese Werte steht wie keine andere, schon einknickt, weil ihr ein anonymer Twitter-User ans Bein pinkelt, ist ein Treppenwitz dieses Jahres. Möge es nun endlich zu Ende gehen.

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