Flüchtlingskrise, Brexit, BER - Floskeln lösen keine Probleme

Kisslers Konter: Mögen die Herausforderungen noch so groß und neu sein: Politiker reagieren darauf mit den ewiggleichen, alten Floskeln. So züchten sie jenen Politikverdruss, den sie beklagen.

Blick von oben: Die Schere zwischen Volk und Volksvertretung wird sich weiter öffnen
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Das Hyperventilieren der politischen Klasse vor der britischen Volksabstimmung über einen Austritt aus der Europäischen Union hat einen Grund: Es handelt sich um eine Volksabstimmung. Das Volk, der garstige Lümmel, ist unkalkulierbar. Womöglich entscheidet es sich nach der grauenhaften Ermordung der Labour-Abgeordneten Cox aus Stimmungsgründen gerade so gegen einen „Brexit“, wie es sich zuvor aus Stimmungsgründen für einen „Brexit“ entschieden hätte, wer weiß das schon. Die Politikprofis müssten dann die Launen der Laien, die sich souverän schimpfen, ausbaden.

Wahr bleibt: Politiker sorgen für Politikverdruss. Es sind nicht in erster Linie die angeblich immer komplexer werdenden politischen Prozesse, die globalen Interdependenzen – beides gibt es natürlich –, die einen Keil treiben zwischen Souverän und Repräsentanz. Nein, es sind die exponenziell zum wachsenden Grad dieser Verflechtungen ansteigenden Versuche der Beauftragten, der Stellvertreter, der eigentlich nur abgeleitet Handelnden, ihren Auftraggeber, das Volk, von einer tieferen Einsicht in die politische Materie fernzuhalten. Wir leben im Zeitalter der behaupteten Transparenz und der praktizierten Intransparenz, der geforderten Partizipation und der habituellen Exklusion. Der kommende Bundestagswahlkampf wird es belegen. Er wurde nun vom CDU-Generalsekretär Peter Tauber mit der Aussage eröffnet: „Wir wollen das Land voranbringen.“

Ja nun, ei wie, echt? Die Wählerschar soll sich zur Merkel-Partei bekennen, nicht weil, wie vor drei Jahren, die Kanzlerin treuherzig versichert, „Sie kennen mich“, was anno 2016/17 wie eine Drohung klänge, sondern weil die seit 2005 regierende Partei „das Land voranbringen“ will? Wer hat sie bisher daran gehindert? Mit Sätzen aus dem Fertigbaukasten für Nachwuchsstrategen wird der Wähler in den Status eines vergesslichen Kleinkindes versetzt. Vermutlich werden die Mitbewerber sich in Sachen Inhaltsleere nicht lumpen lassen und ihrerseits das einzig Richtige zu tun versprechen, soziale Gerechtigkeit en gros, beste Bildung für alle, Friede, Freude, Klimaschutz.

Auf komplexe Probleme mit unterkomplexen Phrasen zu antworten, hat sich parteiübergreifend durchgesetzt. Die Floskelroutine regiert. Da redet Frau Merkel von „Herausforderungen“ in diesen „spannenden Zeiten“, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass als Resultat der von ihr mitverschuldeten Migrationskrise soziale wie fiskalische Spannungen zunehmen, die öffentliche Sicherheit erodiert und der Staat vor bisher 400.000 unerledigten Asylanträgen, 150.000 unregistrierten Asylbewerbern und einer unübersehbar weiter nachdrängenden Menschenmenge kapituliert, mehr oder weniger und meistens mehr.

Ebenso groß kann die Diskrepanz zwischen Tun und Meinen auf der Länderebene sein, in Berlin zumal. Als wäre nicht bereits jede weitere im märkischen Sand versenkte Steuermilliarde, jedes weitere im Inkompetenzwirrwarr vertane Jahr Rücktrittsgrund genug, beharren die oberaufsehenden Politiker auf ihrer strukturellen Nichtverantwortlichkeit für das BER-Desaster. Sie freuen sich gewiss über die aktuelle Wendung der Skandalgeschichte: Erst im Oktober, erst nach dem Berliner Landtagswahlkampf, soll bekanntgegeben werden, ob der nächste Eröffnungsverschiebungstermin auf das Jahr 2018 lauten soll. Die eskalierte Nonchalance, mit der die Hauptstadt regiert wird und wie sie sich im Flughafenprojekt unüberbietbar manifestiert, ist Symptom einer allgemeinen Entkoppelung von Amt und Verantwortung. Ließe sich sonst ein Staatsversagen zur Herausforderung, ein Milliardengrab zum Fatum aufhübschen?

Ach, vergeblich das Klagen und Schimpfen. Die Schere wird sich weiter öffnen zwischen Volk und Volksvertretung, welche opak bleibt und geschlossen und im Milchglasblick auf Wirklichkeiten gefangen. Wer aber wie Beelzebub das Weihwasser das klare Wort, den sachlichen Streit fürchtet, der züchtet jene Launen, die er beklagt.

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