Gesellschaft - Entschleunigt Euch!

Souveränitätsverlust, Zuwanderung, sprachliche Tabuzonen: Die atemberaubende Beschleunigung gesellschaftlichen Wandels hat in den letzten Jahrzehnten zu einer tiefen Krise der Demokratie geführt. Denn Anpassung und gesellschaftliche Akzeptanz brauchen vor allem eines: Zeit. Ein Plädoyer

Je schneller Veränderungen stattfinden, desto schwieriger fällt der Aufbau von Vertrauen - nicht nur in der EU / picture alliance
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Autoreninfo

Christoph Moes ist Notar in Augsburg. Er hat Jura an den Universitäten München, Genf und Harvard studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht.

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Gesellschaftliche Transformationsprozesse sind ständig im Gange. Es gibt sie revolutionär mit der Umstürzung der Verfassungsverhältnisse oder evolutionär auf der Grundlage konstitutioneller Spielregeln. Sie können vorwiegend technisch induziert sein wie die industrielle Revolution und die Digitalisierung. Oder vorwiegend emanzipatorisch wie die Entwicklung des modernen Nationalstaates und der Demokratie. Eines aber haben alle Transformationsprozesse gemeinsam: Sie kennen Gewinner ebenso wie Verlierer.

In Diktaturen wird der Widerstand der Verlierer oft mit Gewalt unterdrückt. Das können sich Demokratien nicht erlauben. Dort müssen die Verlierer kompensiert werden. Es gibt im Wesentlichen zwei Kompensationsmechanismen: Der erste sind ökonomische Transfers. Das wussten schon die alten Römer und auch in unserer Republik wird zuweilen so exzessiv Gebrauch davon gemacht, dass ein zweiter Kompensationsmechanismus nahezu in Vergessenheit geraten ist: Die Entschleunigung.

Vertrauen lebt von Entschleunigung

Gerade wenn die zu kompensierenden Verluste nicht in erster Linie materieller Natur sind, sondern die Aufgehobenheit der Menschen in ihren sozialen Beziehungen betreffen, brauchen die Verlierer von Transformationsprozessen nicht nur Geld, sie brauchen auch Zeit - manchmal mehrere Generationen, um die ihnen abverlangten Verhaltensanpassungen stemmen zu können. Vertrauen in altbekannte Institutionen muss verabschiedet und neues Vertrauen muss langsam gefasst werden. Je gleichzeitiger und schneller Transformationen stattfinden, desto schwerer fallen der Vertrauensaufbau und die Anpassung von Verhaltensmustern. Das lässt sich an den drei Transformationsprozessen studieren, deren atemberaubende Beschleunigung in den letzten drei Jahrzehnten für die heraufziehende Krise der liberalen Demokratie ganz offenbar mitursächlich ist: Die europäische Integration, die Migration und die Gerechtigkeitspolitik.

Der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat die europäische Integration einmal als „die bedeutendste politische Innovation seit der Erfindung des neuzeitlichen Staates“ bezeichnet. Und bis zu den ersten echten Krisensymptomen der 2000er Jahre gab die Entwicklung auch durchaus Anlass zu der Hoffnung, dass der Zusammenschluss der europäischen Staaten unter einem gemeinsamen Dach schneller gelingen könnte als der historische Vergleich vermuten lässt. Die Integration des europäischen Teils der damaligen westlichen Hemisphäre in einen gemeinsamen Binnenmarkt trug erheblich zum Wohlstand bei, ohne den Bevölkerungen große kulturelle Anpassungen abzuverlangen.

Der Zusammenbruch des Ostblocks führte dann aber zu dem Gefühl, nun könne man binnen weniger Jahre nach den Sternen greifen und die Transformationsgeschwindigkeit enorm erhöhen. Währungsunion, Osterweiterung, Ausdehnung der EU-Kompetenzen auf sensible Bereiche der nationalen Innen- und Sicherheitspolitik und nicht zuletzt die Zuweisung der Interpretationshoheit über einen immer umfangreicheren Bestand an konstitutionellen Regeln an den mächtigen Europäischen Gerichtshof sind die Meilensteine, die binnen nicht einmal zweier Jahrzehnte absolviert wurden.

Große Transformationsschritte erfordern großes Vertrauen

Dem Integrationsprinzip der EU, nationalstaatliche Souveränitätsrechte auf die EU zu übertragen, liegt eigentlich ein breiter gesellschaftlicher Konsens zugrunde. Dieser stand auch jahrzehntelang nicht in Frage, solange die Übertragung in kleinen Schritten erfolgte und deren Folgen vor dem nächsten Schritt kritisch gewürdigt wurden. Die Übertragung von Souveränitätsrechten erfordert es dabei stets, dass die Bevölkerung den entsprechenden Organen der EU und den dort vertretenen anderen Mitgliedstaaten ein vergleichbares Vertrauen entgegenbringt wie bisher den Organen des eigenen Nationalstaates. Auch nur der Eindruck, dass die Aufgabe von Souveränitätsrechten in sensiblen Bereichen vorschnell und insbesondere ohne Rückholoption erfolgt, kann verheerende Folgen haben. Große Transformationsschritte erfordern großes Vertrauen. Und das wächst langsamer als man sich wünschen mag.

Ohne Zweifel: In historischer Perspektive ist es für ein Gesamturteil über die letzten 30 Jahre EU-Integration viel zu früh. Aber dass die enorme Transformationsgeschwindigkeit mit einem gefährlichen Vertrauensverlust bezahlt worden ist, wird man kaum in Abrede stellen können, wenn man die Wahlerfolge europaskeptischer Parteien betrachtet. Die Krisen seit 2010 legen davon zuverlässig Zeugnis ab. Am meisten wohl die Migrationskrise.

Auch in der Migrationspolitik spielen Illusionen über die Fähigkeit der Menschen, ihre Alltagsabläufe schnell zu adaptieren, eine große Rolle. Zwei Narrative dominierten die Diskussion um die Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten: Ein ökonomisches, wonach Zuwanderung per se zu Wohlstandsgewinnen führt. Und ein postnationales, wonach sich Multiethnizität nicht nur unproblematisch organisieren lässt, sondern auch Vorbedingung einer künftigen humanen Weltgesellschaft ist.

Fehlende Rücksicht auf die Anpassungsfähigkeit der Menschen

Das konservative politische Spektrum hatte dem keine schlüssigen Konzepte entgegenzusetzen, sondern verharrte in Realitätsverweigerung. Es obsiegte daher eine eigentlich überraschende Allianz aus wirtschafts- und gesellschaftsliberalen Interessengruppen. Vor diesem Hintergrund wurde die Transformation durch Zuwanderung beschleunigt. Zum einen durch die Erweiterung der EU, mit der die grundrechtsartig ausgestalteten Zuwanderungsrechte der EU-Verträge auf große Teile Osteuropas ausgedehnt wurden. Zum anderen durch ein Asyl- und Flüchtlingsregime für Drittstaatsangehörige, dessen totale Dysfunktionalität lange unter dem Radar blieb und im Angesicht der enormen Beschleunigung des Migrationsprozesses im Jahr 2015 erschreckend zu Tage trat.

Hier zeigt sich, dass die Geschwindigkeit der Transformation ohne ausreichende Rücksicht auf die Anpassungsfähigkeit der Menschen vor Ort mit ihrer Einbettung in vorwiegend kommunale Infrastrukturen und örtlichen Beziehungsgeflechte das eigentliche Problem ist. Natürlich sind Gesellschaften grundsätzlich integrationsfähig, auch was die Diversifizierung ihrer Bevölkerung durch Migration angeht – aber die Größenordnung und die Zeitspanne sind dabei die entscheidenden Faktoren.

Verschiebung politischer Diskursregeln

Den dritten Transformationsprozess, der in den vergangenen Jahrzehnten eine enorme Beschleunigung erfahren hat, bezeichnet man vielleicht am besten als Gerechtigkeitspolitik. Das betrifft zum einen konkrete Maßnahmen in Themenfeldern wie der Geschlechter-, Teilhabe- oder Generationengerechtigkeit, noch mehr aber die damit verbundene Verschiebung der politischen Diskursregeln, die nicht zuletzt der Wiedererlangung der Diskurshoheit dienen soll.

Riskant ist dabei vor allem die schnelle Ausweitung von sprachlichen Tabuzonen. Denn viele Menschen sind dem schlichtweg nicht gewachsen. Sie haben einen bestimmten Sprachgebrauch eingeübt, der vielleicht nicht immer wünschenswert ist, der aber nicht in böser Absicht erfolgt. Dies mit Diskursausschluss oder mit der demütigenden Einforderung einer öffentlichen Entschuldigung zu verbinden, ist in Extremfällen sicherlich berechtigt. Es hat sich aber zu einer Unsitte entwickelt, auch im niederschwelligen Bereich Zensuren über den Sprachgebrauch des politischen Gegners zu verteilen. Wer gestern noch über den Inhalt der Genfer Flüchtlingskonvention mitdiskutieren wollte, wird heute schnell belehrt, dass es „Geflüchteter“ statt „Flüchtling“ heißen muss, noch bevor das erste Argument in der Sache ausgetauscht ist.

Nicht jeder kann sich dagegen selbstbewusst zur Wehr setzen. Und nicht alle, die es können, haben Lust dazu. Ob diese sprachlichen Transformationsprozesse als solche problematisch sind, sei hier gar nicht thematisiert und kann ohnehin nur von Fall zu Fall beurteilt werden. Ihre Geschwindigkeit empfinden aber nicht wenige als frustrierend und sie verhindert effektiv politische Partizipation. Der Inklusionsversuch generiert dann an anderer Stelle ein Gefühl der Exklusion. Und es ist inzwischen leidlich bekannt, wer sich das zu Nutze macht.

Inzwischen gibt es kaum ein Land im westlichen Kulturkreis, in dem sich nicht von rechts her Bewegungen bilden, die dem Jahrtausendprojekt eines transnationalen Staatenverbundes mit offenen Grenzen und dem gleichberechtigten Nebeneinander höchst diverser Lebensformen den Kampf angesagt haben.

Eine Frage der Perspektive

Ob die sich hier abzeichnende gesellschaftliche Zersetzung gestoppt werden kann, hängt stark davon ab, welche politische Perspektive auf Transformationsprozesse in den nächsten Jahren die Oberhand gewinnt: Die konservative, wonach bewusste Entschleunigung und größere Sorgfalt bei einzelnen Schritten notwendig ist, um die Bevölkerung mitzunehmen und so ein sozial und kulturell nachhaltiges Ergebnis zu erreichen. Oder die progressive, die jedes Ziel in beliebigen Zeitspannen für erreichbar hält, wenn der Wille nur groß genug ist, und für die obendrein Transformationskrisen die Gelegenheit schlechthin sind, das Werk mit einem großen Sprung nach vorne zu vollenden.

Hier liegt eine echte Alternativität der politischen Grundhaltungen, die auch nicht einfach entlang parteipolitischer Grenzen verläuft. Die Diskurshoheit hat seit den 1990er Jahren die progressive Perspektive. Das Pendel der Transformationen ist entsprechend weit ausgeschlagen. Es ist Zeit, hier nachzujustieren. Darum muss gestritten werden. Zivilisiert im Umgang, aber klar in der Sache. Und ohne jede Rücksicht auf Applaus oder Buhrufe der Populisten linker und rechter Couleur.

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