En Passant - Die goldene Mauer

Politiker wollen sich mit schlechten Leistungen in der Schule bei ihren Wählern profilieren. Damit sagen sie aber nur eine einzige Tatsache über sich

Erschienen in Ausgabe
Illustration: Anja Stiehler/ Jutta Fricke Illustrators
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Neuerdings behaupten alle möglichen Politiker, schlecht in der Schule gewesen zu sein. Ginge es ihnen darum, jungen Schulversagern Mut zu machen, wäre das freundlich. Ist es aber nicht. Wenn Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, die „Abscheu gegen autoritäre Strukturen“ als Ursache für seine schlechten Schulnoten anführt, bedient er nur das Menschenbild seiner Wähler. Wenn der CSU-Politiker und ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sagt: „Sitzenbleiben ist eine Chance, noch einmal durchzustarten“, steht in unsichtbaren Klammern dahinter: wie die Union nach Merkels Flüchtlingsdesaster.

Am liebsten sind Politiker in Mathe schlecht gewesen. Kretschmann will schon seine erste Mathearbeit „mit dem schlechtesten Resultat der ganzen Klasse“ versemmelt haben. Heide Simonis hat mal damit kokettiert, dass sie, die immerhin finanzpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und später Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein war, ihre Mathe-Fünf mit einer Eins in Religion ausglich. Und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wartet ausgerechnet vor Schülern damit auf, die binomischen Formeln nicht geschnallt zu haben, den Grundstoff der siebten Klasse.

Ich bin genauso bescheuert wie ihr

Nähe, das haben unsere Politiker von den Verhaltensforschern gelernt, wird über Ähnlichkeit hergestellt. Darum sagen sie ihren Wählern: Ich bin genauso bescheuert wie ihr. Dabei haben wir längst gemerkt, dass die meisten Politiker, obwohl sie doch eigentlich unsere Angestellten sein sollten, weit über uns schweben.

In seinem Roman „Die Entdeckung des Himmels“ beschreibt Harry Mulisch Politik als „goldene Mauer“. Vor der Mauer wuselt das Volk, hinter der Mauer liegt „wie das Auge des Zyklons die Welt der Macht“. Das Volk denkt, dass dort System und Ordnung herrschen. Aber in Wahrheit, so Mulisch, gehe es hinter der goldenen Mauer genauso zu wie davor. Es gibt keinen qualitativen Unterschied. Die Mauer existiert nur, weil das Volk daran glaubt.

Irgendwie ahnen wir das. Doch wir schaffen es nicht, die goldene Mauer einzureißen. Wenn Politiker sich anbiedern und uns so zu den Idioten machen, die sie vorgeben selbst zu sein, zeigen sie uns nicht, dass sie uns nah sind. Sondern dass die Mauer ihre Anmaßung schützt.

 

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