Demokratie und politische Kultur - Durch Trump lernen

Demokratie ist Streit und Handeln. Beides ist Europa abhandengekommen. Es schlafwandelt. Und wird gerade wachgerüttelt

Bussi-Bussi-Kultur statt kritische Debatte: Merkel, Juncker und Macron / picture alliance
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Christopher Clark ist einer der bedeutendsten Historiker Europas, ja weit über Europa hinaus. Und er hat das vielleicht aktuellste Geschichtsbuch geschrieben: „Die Schlafwandler“. Das Werk handelt vom schlafwandlerischen Gang der Mächte und der Mächtigen 1914 in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs – hinein in ein fürchterliches Massaker, das damals eigentlich ganz unvorstellbar war, folgte es doch auf eine Friedensperiode, die gesichert schien durch wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und ganz allgemein gesellschaftlichen Fortschritt. Eine schöne Zeit im Rückblick, eine gelebte Utopie.

Aus dem Buch von Christopher Clark lässt sich eine Lehre ableiten: Dass man politisch nicht schlafwandeln, sondern wach bleiben – und bewusst handeln sollte. Nun ist es nicht so, dass es keine Politiker gäbe, die handeln. Leider sind es vor allem Politiker, deren Handlungen uns auf völlig unvorhergesehene Weise aus unserem Tagtraum vom friedvollen Siegeszug westlicher Werte reißen: Orbán handelt, die Populisten Europas handeln, am spektakulärsten handelt Donald Trump. Ich stelle eine völlig unstatthafte, eine frivole Frage: Was können wir durch Donald Trump lernen? Das Erwachen!

Bürger erwarten Bewegung von der Politik

Und es geschieht: In Europa schütteln die Demokraten die Köpfe, ja sie schütteln sie wie jemand, der gerade erwacht, der sich selbst wachrüttelt, um zu verstehen, wo er sich befindet. Bewegung ist neben der Krise ein Schlüsselwort unserer Zeit: Die Populisten nennen sich gerne Bewegung; Bewegung verkörpert auch Donald Trump; in Europa erleben wir – gottlob! – ein demokratisches Gegenstück zu dieser provozierenden Bewegerei: die Bewegung von Emmanuel Macron – „la République en marche“.

Bewegung ist ganz offensichtlich erfolgreich, dort, wo sie uns erschreckt, ebenso wie dort, wo sie uns beglückt. Erfolgreich heißt: Bewegung wird wählbar. Und: gewählt. Daraus lässt sich mühelos ableiten, dass die Bürgerinnen und Bürger von der Politik Bewegung erwarten, und zwar so sehr erwarten, dass sie sogar bereit sind, das politische Lager zu wechseln: Aus christdemokratischen oder sozialdemokratischen, überhaupt aus demokratischen Wählern werden über Nacht Anhänger von autoritären Führern.

Die westliche demokratische und rechtsstaatliche Zivilisation steht zwar deshalb noch nicht am Abgrund. Ungarn ist Ungarn, Orbán ist nur Orbán; Italien ist Italien, Salvini ist nur Salvini. Amerika ist Amerika, Trump ist nur Trump. Und doch haben die Politiker der wahrhaft westlichen Werte, die bisher das wohlgeordnete Geschehen liebten und den wohlklingenden Kammerton pflegten, allen Grund, die Forderung der Bürgerinnen und Bürger zu erhören, die da lautet: „Es muss etwas geschehen!“ Die Forderung ist ja verständlich, geschieht doch im Leben der Bürgerinnen und Bürger täglich Unvorhergesehenes, sind doch die Bürgerinnen und Bürger einem Geschehen ausgeliefert, das sie nicht durchschauen, geschweige denn mitbestimmen – das die Politik ihnen nicht erklärt, schon gar nicht durch entschlossenes Handeln vermittelt.

Was wäre, wenn?

Muss es uns nicht zu denken geben, dass sich ausgerechnet Donald Trump mit dem koreanischen Diktator trifft, um das seit Generationen schwelende Problem mit diesem Staat, der inzwischen ein Atomstaat ist, zu bereinigen? Richtig, Trump will einen Deal machen. Und vielleicht macht er sich damit lächerlich. Aber stellen wir uns einmal vor, ein Präsident von der intellektuellen Statur Obamas hätte gehandelt, wäre mit dem Diktator aus Nordkorea zusammengekommen, hätte einen Deal machen wollen – es wäre, endlich, etwas geschehen!

Und wie wäre es gewesen, wenn die Europäische Union China herausgefordert hätte? Den Ausverkauf westlicher Technologie an die chinesischen Staatskonzerne gestoppt hätte? Wie wäre es gewesen, wenn die Europäische Union Nein gesagt hätte zur Einfuhr systematisch subventionierter chinesischer Produkte? Ja, wie wäre es gewesen? Was wäre schließlich, wenn in Europa das Einwanderungsproblem angepackt worden wäre, offen diskutiert worden wäre, bevor es die Populisten bewirtschaften konnten?

Politik vermittelt Orientierung

Die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass etwas passiert – und haben den Eindruck, dass nichts geschieht. Wie kam es zu diesem Attentismus? Sicher auch durch den wirtschaftlichen Erfolg, der ja, trotz Finanzkrise, ganz offensichtlich ist: eine beachtliche Leistung, auf die immer wieder, bis heute, Bezug genommen wird, wenn man den Bürgerinnen und Bürgern klarmachen möchte, dass es ihnen gut geht. Doch Zahlen ersetzen keine Politik. Sie kurieren auch kein kulturelles Unbehagen. Zahlen sind abstrakt. Sie wecken keine Bilder im Kopf. Sie vermitteln keine Vorstellungen vom Geschehen.

Politik ist weit mehr als Zahlen. Politik ist das Sichtbarmachen dessen, was hinter den Zahlen steckt, was Zahlen bewirken, wofür Zahlen nützlich sind, was Zahlen gefährlich macht. Ökonomisierung macht Menschen ratlos; Politik vermittelt Menschen Orientierung. Politik ist die Kultur der demokratischen Gesellschaft. Die autokratischen Kräfte, die in Europa, aber auch in den USA mächtig werden, erwecken erschreckend erfolgreich den Eindruck von Politik, erwecken erschreckend verführerisch das Gefühl, dass Unbegreifliches plötzlich begreifbar wird – geradezu greifbar. Die Aggressivität dieser Kräfte vermittelt den Eindruck von entschlossenem Handeln.

Demokratie ist Streit, nicht Konsens

Was ist zu tun? Es gibt eine Sportart, die den demokratischen Kräften und Mächten und Politikern eine Handlungsanleitung geben könnte. Die Sportart heißt Judo. Beim Judo geht es darum, die Kraft des Gegners aufzunehmen und in einer eigenen, eleganten Bewegung zum Sieg über ihn zu nutzen. Ums Zupacken geht es auch – bevor die Autokraten, die Populisten, die Unberechenbaren zupacken. Womit aber beginnt politisches Handeln? Mit dem Benennen des Geschehens – der Probleme. Das Benennen ist der Anfang aller Politik – aller demokratischen Politik. Denn durch die Benennung der Probleme backen wir die Bausteine, mit denen in der Werkstatt der Demokratie die Lösungen verfertigt werden.
Erst die Benennung dessen, was die Gesellschaft umtreibt, ermöglicht die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Sie können mit diesen Bausteinen mitbauen – politisch mitreden. Sie können damit auch Barrikaden bauen, sogar mit diesen Steinen werfen.

Ja, Demokratie ist ein Risiko. Sätze und Worte und Wörter zur Wirklichkeit provozieren die Widerrede, den Streit. Der Streit ist der Wesenskern einer funktionierenden Demokratie. Was ich als streitsüchtiger Demokrat seit geraumer Zeit mit Beklemmung feststelle – allzu lange schon –, ist Unlust am Streit, ist Lust auf Kompromiss und Konsens, bevor der Streit überhaupt stattgefunden hat.

Man hält das mancherorts – gerade in Deutschland – für die hohe Kunst des Regierens. Man glaubt, damit die Bürger beeindrucken und gewinnen zu können. Letztlich jedoch schließt man damit die Menschen, die nicht institutionell am politischen Geschehen beteiligt sind, vom demokratischen Leben aus.

Auf ins Getümmel!

Ja, die Bürgerinnen und Bürger dürfen wählen – wie man es paternalistisch formulieren könnte. Paternalismus – in Deutschland Maternalismus – hat sich eingeschlichen in das Kammerspiel der Elite. Indem man nur gerade sagt, was nicht kritisch gewendet werden kann, vermittelt man den Eindruck: Wir führen, ihr werdet geführt.

Politik als Herrschaftswissen. Politik durch Herrschaftswissen. Als Schweizer in meiner neuen Heimat Berlin, wo Publizistik und Politik sich geradezu unzüchtig intim in den Armen liegen, bemerke ich diese Mentalität ganz besonders deutlich. Aber auch europäisch wird fatale Familiarität vorgeführt: durch die Bussi-Bussi-Kultur bei jedem Treffen von Ministern oder Regierungschefs. Man umarmt sich, man küsst sich – auf eine Weise vertraut, die den normalen Bürger ausschließt. Denn welcher Bürger darf schon die Kanzlerin küssen? Politiker als Mitglieder eines Klubs, zu dem niemand sonst Zugang hat.

Demokratie ist kein schönes Konzert, in welchem jeder Citoyen am zugewiesenen Ort sein Instrument spielt, dirigiert von der Kanzlerin, die alles harmonisch zusammenführt. Demokratie ist Dissonanz! Laut und mitunter wirr. Es geht heute darum, dass sich nicht die Wirrköpfe dieser wunderbaren Wirrnis bemächtigen. Sondern Menschen wie wir, die wir hier um diesen Tisch versammelt sind. Stürzen wir uns doch ins Getümmel!

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlieh Frank A. Meyer am 17. September 2018 das Bundesverdienstkreuz am Bande für sein außerordentliches journalistisches Engagement.

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.

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