Deutschland und das Coronavirus - Unvorbereitet auf den schlimmsten Fall

Im Kampf gegen das Coronavirus sind derzeit viele Maßnahmen der Bundesregierung absolut angemessen. Auf Szenarien wie in Italien bereiten sich die Verantwortlichen aber immer noch nicht vor. Vor allem müssen sie einen Inneneinsatz der Bundeswehr ermöglichen.

Gebirgsjäger bei einer Übung: In der Corona-Krise könnte es die Bundeswehr zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung brauchen / dpa
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Björn Lakenmacher, MdL, ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender und innenpolitischer Sprecher der CDU im Landtag von Brandenburg.

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Prof. Dr. Martin Wagener unterrichtet Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin.

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Björn Lakenmacher, MdL, ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender und innenpolitischer Sprecher der CDU im Landtag von Brandenburg. Prof. Dr. Martin Wagener unterrichtet Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin.

Das Coronavirus hat Deutschland erfasst. Die Zahl der Infizierten steigt täglich, auch erste Tote sind zu beklagen. Große Teile der Bevölkerung zeigen sich verunsichert, es gibt Hamsterkäufe. Großveranstaltungen werden abgesagt, Schulen und Kitas geschlossen, die Verhängung von Quarantäne-Maßnahmen gehört zum Bestandteil der täglichen medialen Berichterstattung. Der Dax hat erhebliche Einbrüche zu verzeichnen, die Unterbrechung globaler Lieferketten trifft mittlerweile auch spürbar die deutsche Wirtschaft. Derzeit ist nicht absehbar, wie sich die Lage mittelfristig entwickelt.

Natürlich gibt es noch keinen Anlass zur Panik. Die Coronavirus-Pandemie kann sich abschwächen. Steigen die Temperaturen im Frühling, wird es für den Erreger immer schwieriger, sich schnell auszubreiten. Allerdings sind sich die Mediziner derzeit nicht einig, wie sehr die Pandemie dadurch tatsächlich eingedämmt werden kann. Vorstellbar ist auch, dass die staatlichen Gegenmaßnahmen greifen und die Verbreitung des Virus verzögern. So könnte Zeit gewonnen werden, um einen Impfstoff vor der ab Herbst zu erwartenden zweiten viralen Welle auf den Markt zu bringen – wenngleich viele Experten bezweifeln, dass dies in nur wenigen Monaten gelingen wird.

Angemessen vorbereiten

Außerdem ist es denkbar, dass sich die neue Infektionskrankheit auf dem Niveau der jährlichen Influenza entwickelt, mit der Deutschland zu leben gelernt hat. Das Robert Koch Institut (RKI) hat in einem Bericht mit Stand vom 6. März 2020 die folgenden Zahlen veröffentlicht: In der Saison 2019/2020 sind der Einrichtung 145.258 „labordiagnostisch bestätigte Influenzafälle“ übermittelt worden. In 23.276 Fällen wurden die Patienten hospitalisiert. Insgesamt sind 247 Menschen an den Folgen der Grippe verstorben. Die Saison 2017/2018 war noch deutlich schlimmer verlaufen: Die Zahl der laborbestätigten Fälle lag bei 1.674 Toten, die Exzess-Schätzung des RKI ging sogar von 25.100 Influenza-Opfern aus. Diese Angaben liegen weit entfernt von den bisherigen Auswirkungen des Coronavirus in Deutschland, an dem sich bis zum 16. März 2020 insgesamt 6.248 Personen angesteckt haben; 13 Menschen sind dem Virus zum Opfer gefallen (Datenerfassung: 14:20 Uhr gemäß Worldometer).

In einer solchen Situation muss die Bundesregierung unterschiedliche Szenarien durchgehen, um sich angemessen auf die kommenden Monate vorzubereiten. Dazu gehört auch die Bereitschaft, den schlimmsten Fall zu erwägen und nicht nach dem Prinzip Hoffnung zu verfahren. Anlass zu sehr ernsten Sorgen bieten diese Zahlen: Bundeskanzlerin Angela Merkel geht nach eingehenden wissenschaftlichen Beratungen davon aus, dass sich bis zu 70 Prozent der Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infizieren könnten. Der Präsident des RKI, Lothar H. Wieler, bestätigte diese Schätzung. Bei einer Bevölkerung von derzeit etwas über 83,1 Millionen Menschen könnte es folglich bis zu 58,2 Millionen Erkrankte geben. Die meisten werden genesen, die Infektion war dann lediglich eine mehr oder weniger schwere Grippe. Zugleich ist aber auch mit erheblichen Opferzahlen zu rechnen.

Bis zu 4,2 Millionen Opfer möglich

Unter den derzeitigen Bedingungen können natürlich nur Annäherungswerte bestimmt wer-den. Die tatsächliche Sterberate lässt sich erst am Ende einer Epidemie errechnen. Die aktuellen Zahlen lassen die folgende Einschätzung zu: Demnach liegt die Mortalitätsrate in den USA bei 1,8, im Iran bei 5,7 und in China bei 4,0 Prozent. Frankreich kommt auf 2,3, Spanien auf 3,4 und Südkorea lediglich auf 0,9 Prozent. Stark betroffen ist Italien mit 7,3 Prozent. Die weltweite Mortalitätsrate beträgt bei 174.115 Infizierten und 6.684 Toten 3,8 Prozent. Die Aussagekraft der Angaben ist insofern eingeschränkt, als die Sterberaten sehr stark von den Bedingungen vor Ort abhängen (z.B. der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems).

Für Deutschland bedeutet dies: Einerseits ist die Mortalitätsrate derzeit sehr gering, sie liegt bei lediglich 0,2 Prozent. Dies entspricht bislang den üblichen Ergebnissen einer Influenza-Saison. Andererseits sagt diese Zahl nichts über das aus, was auf die Bundesrepublik zukommen kann. Trifft die Maximalschätzung der Bundeskanzlerin und des RKI-Präsidenten zu, ist bei einem mittleren Wert von 3,8 Prozent Sterberate langfristig mit 2,2 Millionen Toten zu rechnen. Im Falle eines „Italien-Szenarios“ wäre sogar von 4,2 Millionen Opfern auszugehen. Ein positives Szenario könnte wie folgt aussehen: Nur 40 Prozent der Deutschen infizieren sich, die Mortalitätsrate liegt bei einem Prozent. Selbst wenn dies gelingt, wären über 332.000 Tote zu beklagen.

Politik muss schneller handeln

Wichtig sind nun die Lernerfahrungen, die Deutschland aus dieser Entwicklung ziehen muss. An erster Stelle sollte die Fähigkeit stehen, jene Menschen besser zu schützen, die für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems verantwortlich sind, also vor allem Ärzte, Krankenschwestern und weiteres Unterstützungspersonal. Sie müssen jederzeit auf genügend Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel Zugriff haben, wozu über Bevorratungssysteme neu nachzudenken ist. Selbiges gilt für den Schutz derjenigen, die dazu beitragen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten – Polizisten, Mitglieder der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks. Soweit derzeit für Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel Wucherpreise zu zahlen sind, ist den Verantwortlichen dennoch zum Kauf zu raten: Der Schutz der Bevölkerung geht vor!

Die Politik muss zudem schneller und präventiver handeln. Wenn sich eine Pandemie abzeichnet, sollte das öffentliche Leben frühzeitig heruntergefahren werden. Universitäten, Schulen und Kitas sind zu schließen; Großveranstaltungen auch unter 1.000 Personen müssen verboten werden; Quarantäne-Maßnahmen sind bereits im Verdachtsfall zu verhängen. Die Corona-Krise zeigt des Weiteren, wie handlungsunfähig Deutschland ist, wenn es weiterhin auf ein funktionierendes Grenzregime verzichtet. Insgesamt muss unbürokratisch gehandelt werden: Stehen gesetzliche oder administrative Regeln dem Bevölkerungsschutz entgegen, sind diese zu ändern.

Inneneinsatz der Bundeswehr ermöglichen

Um wie in Italien über die Option breitflächiger Abriegelungen infizierter Gebiete zu verfügen, muss der Inneneinsatz der Bundeswehr ermöglicht werden (bei Bedarf auch zum erweiterten Grenzschutz). Die Streitkräfte sollten nicht nur, wie dies derzeit geplant wird, Kapazitäten der Bundeswehrkrankenhäuser zur Verfügung stellen. Es muss zusätzlich möglich sein, Soldaten unbürokratisch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung einzusetzen. In Absprache mit dem Bundesverteidigungsminister ist es daher dem Bundesinnenminister zu ermöglichen, diese Karte auszuspielen.

Natürlich sind auch die Schutzvorkehrungen für die Bevölkerung zu erweitern. Dies betrifft neben den Krankenhausbetten Pläne zur großflächigen Unterbringung von Infizierten in kurzfristig umfunktionierten Großhallen. Die Möglichkeiten zur Durchführung von Tests Erkrankter sind auszubauen, wozu unter anderem auf sich derzeit in der Erprobung befindliche Drive-In-Systeme mit mobilen Testeinheiten gesetzt werden kann. Um Formen der Quarantäne praktisch durchsetzen zu können, sollten Politik und Medien darauf hinwirken, dass die Hinweise des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ernst genommen werden. Dieses empfiehlt eine Bevorratung von Lebensmitteln und Getränken für mindestens zehn Tage – zu jeder Zeit, unabhängig von aktuellen Krisen.

Staaten werden in Notlagen egoistisch

Eine weitere Lehre muss aus der Corona-Krise gezogen werden. Deutschland hat in den vergangenen Jahren stark von der Globalisierung profitiert, was vor allem für die heimischen Unternehmen gilt. Deshalb muss die Bundesrepublik als viertstärkste Wirtschaftsmacht der Welt zwingend in globale Handels- und damit Lieferketten eingebunden bleiben. Die aktuelle Situation zeigt aber auch, wie verwundbar das Land unter diesen Bedingungen geworden ist. Staaten werden in Notlagen egoistisch und halten plötzlich Waren zurück, die sie lieber dem einheimischen Markt zugutekommen lassen. Um auf die Krisen der Zukunft gut vorbereitet zu sein, benötigt Deutschland daher mehr Fähigkeiten zur Autarkie. Es muss zum Beispiel Unternehmen geben, die unerlässliche Produkte für das Gesundheitssystem ohne Abhängigkeit von internationalen Zulieferern herstellen können. Ist dies nur mit staatlicher Hilfe möglich, muss diese in Ausnahmefällen gewährt werden.

Derzeit sind viele Szenarien denkbar. Zeigt das Coronavirus nur eine begrenzte Dynamik, kommt Deutschland mit einem blauen Auge davon. Wird dagegen tatsächlich eine Infizierten-Rate von 70 Prozent erreicht, dann sind – je nach Mortalitätsrate – Szenarien denkbar, die den aktuellen Vorstellungshorizont der meisten Entscheidungsträger deutlich überfordern dürften. Viele der derzeitigen Maßnahmen der Bundesregierung sind absolut angemessen. Leider bereitet sie sich nicht auf den schlimmsten Fall vor, was ein Zeichen mangelnder Führung ist.

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