Delta-Variante - „Ich halte Reiseurlaub derzeit nicht für empfehlenswert“

Der Anteil der Delta-Variante steigt bei den Neuinfektionen in Deutschland zunehmend und damit auch die Sorge vor einer vierten Coronawelle. Der Infektionsmediziner Helmut Fickenscher zu möglichen Gefahren und Konsequenzen dieser neuen Variante.

Ein Urlauber am Strand von Parede, Lissabon / dpa
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Alissa Kim Neu studiert Kulturwissenschaften und Romanistik in Leipzig. Derzeit hospitiert sie bei Cicero.

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Professor Dr. Helmut Fickenscher ist Leiter des Instituts für Infektionsmedizin an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.

Professor Fickenscher, alle Welt spricht jetzt über die Delta-Variante des Coronavirus, die sich auch in Deutschland immer mehr verbreitet. Halten Sie die Angst für gerechtfertigt?

Es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive man das betrachtet. In der Tagesschau wurde die Delta-Variante schon mehrmals als „hochansteckend“ bezeichnet. Ich indes halte es für adäquater, sie als „höher“ ansteckend zu bezeichnen. Aus virologischer Perspektive ist sie nur etwas stärker ansteckend. Der Faktor liegt da in der Größenordnung von 1,2 bis 1,5. Das heißt, dass diese Variante eine andere verdrängen kann, wie es ja auch mit der Alpha-Variante geschah. Aber wie stark sich dies dann bezüglich der Krankheitsfälle auswirkt, ist davon unabhängig und unklar.

Angeblich soll schon eine Übertragung mit der Delta-Variante nachgewiesen worden sein, bei der Menschen in einem australischen Einkaufszentrum schlicht aneinander vorbeigegangen sind. Das klingt natürlich sehr beunruhigend ...

Naja, stellen Sie sich mal vor, Sie werden von jemandem direkt angehustet oder angeniest. Und wenn Sie dann keine Maske aufhaben, wie das in diesem Einkaufszentrum der Fall war, ist das natürlich gefährlich. Auch ist die Bindehaut des Auges stark exponiert und durch eine Maske nicht geschützt.

Von vielen Virologen heißt es nun, dass gegen die Ausbreitung der Delta-Variante nur noch schnelles Impfen helfen könne. Aber ist dieser Wettlauf überhaupt noch zu gewinnen?

Es wird nicht zu verhindern sein, dass sich die Delta-Variante durchsetzt. Verschiedene Quellen sprechen zurzeit von einem Anteil von mindestens 15 und maximal 50 Prozent. Bei einer solch schnellen Zunahme des Variantenanteils ist es sehr wahrscheinlich, dass die Delta-Variante die derzeitig vorherrschende Variante verdrängen wird.

Heißt das, im Herbst kommt die vierte Welle?

Das hängt von sehr vielen Faktoren ab. Bisher sind die Varianten den Impfungen recht gut zugänglich. Das heißt, die Impfung ist weiterhin effizient, und das besonders bei vollständigem Impfschutz. Das gilt auch, wenn in den Studien zur Wirksamkeit manchmal unterschiedliche Zahlen erscheinen. Aber ob wir mit einer hohen Impfrate einer sogenannten vierten Welle zuvorkommen können, ist noch offen. Da ist weiterhin vernünftiges Verhalten gefragt.

Als der Cicero vor drei Wochen ein Interview mit dem Virologen Jonas Schmidt-Chanasit zur Delta-Variante führte, lag der Anteil noch bei unter zehn Prozent. War ein so schneller Anstieg erwartbar?

Das liegt an verschiedenen Faktoren. Unter anderem spielen hier auch die Reiseaktivitäten eine ganz erhebliche Rolle. Und wenn wir dann Berichte über voll besetzte Fußballstadien in Gebieten mit Virusmutanten lesen, dann ist das nicht unbedingt überraschend.

Gab es innerhalb der vergangenen Wochen einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich konkreter Folgen der Delta-Variante für Deutschland?
 
Die Tatsache, dass erhebliche Fallzahlsteigerungen unter anderem aus Portugal, Russland und Großbritannien berichtet werden, lässt eigentlich darauf schließen, dass es in Deutschland zumindest eine relevante Wahrscheinlichkeit gibt, dass uns ein Anstieg der Zahlen nicht erspart bleibt.

Was bedeutet das für unser Impfkonzept? Muss da noch einmal anders priorisiert werden, um zum Beispiel Schüler verstärkt zu impfen?

Helmut Fickenscher / UKSH

Beim Impfen befinden wir uns ja insgesamt auf einem guten Weg, sind aber wegen Impfstoffknappheit nicht schnell genug. Und auch durch politische Verlautbarungen wird die Verfügbarkeit nicht besser. Mittlerweile ist ein großer Anteil der Älteren, der Personen mit Risikokonstellation und ein Teil der breiten Bevölkerung geimpft. Darum halte ich es für sehr realistisch, dass im Sommer und Herbst auch Kinder und Jugendliche soweit wie möglich durchgeimpft werden können. Auch wenn es da medizinisch gesehen keine Prioritätsgründe gibt, ist es für die Immunität der gesamten Gesellschaft ein wichtiger Faktor.  Das wird den Schulunterricht erleichtern, aber solange die Delta-Variante noch nicht ganz einschätzbar ist, sollte unbedingt an der Maskenpflicht in Schulen festgehalten werden.

Was hat die Delta-Variante für Konsequenzen für den geplanten Sommerurlaub?

Ich halte Reiseurlaub derzeit nicht für empfehlenswert. Aber das ist natürlich eine persönliche Entscheidung. Gegebenenfalls muss man nach der Rückkehr offen für zwei Wochen Quarantäne sein.

Müssen selbst vollständig Geimpfte nach dem Urlaub in Virusvariantengebieten in Quarantäne?

Ja, denn Geimpfte können auch mit dem Virus infiziert sein. Sie haben nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, daran schwer zu erkranken. Aber theoretisch können sie das Virus noch übertragen.  

Nun gibt es bereits eine Delta-Plus-Variante, die Forschern Sorgen bereitet. Ist dazu schon mehr bekannt?

Diese Entdeckung ist noch recht neu, und in der Interpretation würde ich erst einmal zur Vorsicht raten. Natürlich muss man die weitere Entwicklung und die Risiken sehr gut im Auge behalten, aber bei den bisherigen Varianten kam es nicht zum Unterlaufen des Schutzes. Es gibt einfach noch zu wenig wissenschaftliche Erkenntnisse zur Delta-Plus-Variante.

Was würde denn geschehen, wenn diese Variante den Impfschutz unterlaufen würde?

Selbst da gäbe es dann Lösungsmöglichkeiten. Besonders die mRNA-Impfstoffe sind relativ leicht umstellbar, indem man die veränderte Komponente einfach austauscht. Aber da hat sich gerade Biontech zu geäußert, die offenbar Daten haben, aus denen hervorgeht, dass ihr Impfschutz derart robust ist, dass selbst neue Veränderungen zunächst keine Gefährdungen verursachen. Zum Antikörperschutz kommt ja auch noch die Reaktivität der zytotoxischen T-Zellen, der Killerzellen, hinzu. Das wird bei den Überlegungen meistens völlig vergessen.

Würde eine solche Anpassung der Impfstoffe schneller gehen als der erste Entwicklungsprozess?

Das würde wohl deutlich schneller gehen. Da gibt es grundsätzliche Verfahrensweisen für sogenannte pandemische Impfstoffe, die für die Grippe etabliert wurden und bei denen die Virus-Komponenten entsprechend angepasst werden können.  

Heute Abend spielt Deutschland gegen England vor 45.000 Fans im Wembley-Stadion im Virusvariantengebiet England. Ist da zu viel falsche Sicherheit im Spiel?  

In dieser Zeit muss einfach eine gute Linie gefunden werden zwischen dem Extrem der völligen Kontaktlosigkeit, was einfach nicht aufrechtzuerhalten ist, und dem Wunsch der Abschaffung aller Beschränkungen. Ein Weg, der auch für die Wirtschaft tragbar und politisch vertretbar ist, ist nur schwer zu finden, Die Entscheidungsträger in der Politik sind nicht zu beneiden.

Die Fragen stellte Alissa Kim Neu.

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