Debatte um Leitkultur - „Verfassungspatriotismus greift zu kurz“

Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestags, erklärte schon 2015, dass beim Thema Leitkultur das Grundgesetz allein nicht ausreiche. Je vielfältiger unsere Gesellschaft wird, desto dringender wird das Mindestmaß an Gemeinsamkeit von Werten und Überzeugungen

Für Norbert Lammert ist das Grundgesetz Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft / picture alliance
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Autoreninfo

Norbert Lammert war 2002 bis 2005 Bundestags-Vizepräsident und anschließend bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages. Heute ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Die Debatte über die kulturellen Grundlagen und die politische Verfassung unserer demokratischen Gesellschaft ist offensichtlich leichter zu verweigern als zu führen. Aber die verständliche Zurückhaltung gegenüber dem Begriff Leitkultur erspart die Auseinandersetzung in der Sache nicht, die wir uns zumuten müssen. Je vielfältiger, bunter, aufgeklärter und zugleich multikultureller unsere Gesellschaft wird, desto dringender wird das Mindestmaß an Gemeinsamkeit von Werten und Überzeugungen, ohne das eine Gesellschaft Vielfalt nicht erträgt.

Westlich-europäische Werte haben Vorrang

Leitkultur in diesem Sinne bedeutet, dass nicht alles, was kulturell begründet oder begründbar ist, in einer Gesellschaft in gleicher Weise gelten kann: Der Anspruch auf Vorrang des Mannes und der Anspruch auf Gleichberechtigung der Frau können zum Beispiel ebenso wenig gleichzeitig gelten wie die Religionsfreiheit und die gegenteilige Auffassung, der Abfall vom Glauben sei ein strafwürdiges Verbrechen. Es geht dabei sicher nicht um spezifisch deutsche Traditionen oder Gewohnheiten, wohl aber um zivilisatorische Werte wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Freiheit von Wissenschaft, Kunst und Kultur und Freiheit der Religionsausübung, die am treffendsten wohl als „westlich“ oder „europäisch“ bezeichnet werden können. Deutsch ist in diesem Kontext allein die Sprache, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Moral und Recht greifen ineinander

Der richtige Hinweis auf die Normen und Werte, die im Grundgesetz kodifiziert und für alle in Deutschland lebenden Menschen gültig sind, reicht allein nicht aus. Denn Verfassungen fallen nicht vom Himmel, sondern setzen historisch-kulturell gewachsene Werte voraus, die sie in Rechtsformen konkretisieren. Deswegen greift auch der offensichtlich weniger anstößige Begriff des Verfassungspatriotismus im Ergebnis zu kurz: Verfassungen sind kein Ersatz, sondern Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft, ihrer Geschichte, der über Generationen vermittelten Überzeugungen und Orientierungen, der Erfahrungen, die ein Land mit sich selbst gemacht hat – und im Zusammenleben der Menschen ständig fortschreibt.

Im „Cicero“-Magazin haben wir bereits im Dezember 2015 mehrere deutsche Politiker zum Thema Leitkultur Stellung nehmen lassen. Diese Beiträge veröffentlichen wir nun auch auf unserer Online-Seite in einer Serie.

Lesen Sie hier die Texte von FDP-Chef Christian Lindner und dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Thomas Oppermann.

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