„Debatte“ um Amthor - Unsere wahre Leitkultur ist die Twitter-Empörung

In einem Buchbeitrag fordert der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor eine Neuauflage der „Leitkultur“-Debatte und erregt damit den fast schon automatisierten Twitter-Empörungssturm. Sieht man sich die Sache allerdings genauer an, stellt sich die Frage: Warum die Aufregung?

Entschuldigung, man wird doch noch einen Buchbeitrag schreiben dürfen? Philipp Amthor sorgt mal wieder für Empörung / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Dieser Tage kann einem Vieles vorkommen wie die Wiederkehr längst vergangener Zeiten. Die einen fühlen sich durch die jüngsten Vorgänge in Thüringen an die Weimarer Republik und ihr Ende im Nationalsozialismus erinnert. Die anderen durch Merkels Forderung, ebendiese Vorgänge „rückgängig“ zu machen, an die DDR. Und auch die späten 1990er und frühen 2000er Jahre scheinen wieder in Mode zu kommen. Friedrich Merz könnte seine Bonner-Republik-Ausstrahlung ins Kanzleramt tragen, denn die christdemokratische Basis sehnt sich offensichtlich nach den ruhigen Jahren der Kohl-Ära zurück.

Friedrich Merz war es auch, der mit dem Begriff der „Leitkultur“ eine gereizte Debatte auslöste und ihn zum Kampfbegriff gegen den vom linken Spektrum der deutschen Politik vertretenen „Multikulturalismus“ machte. In den folgenden Jahren flammte die Diskussion zwar immer mal wieder kurz auf, doch aus der Leitkultur ist nie etwas geworden. Letztlich war auch nie wirklich klar, was damit eigentlich gemeint war. Sollten jetzt alle Bundesbürger und solche, die es werden wollen, Schillers „Glocke“ auswendig lernen? Sollte für jeden Haushalt eine schwarz-rot-goldene Fahne ausgehändigt werden? Und wer bestimmt eigentlich, was Leitkultur ist? 

Alles kommt zurück

Alles kommt zurück. Auch die Debatte um die Leitkultur. Denn der jüngste CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor hat einen Buchbeitrag zu diesem inzwischen alten Begriff geschrieben. Das Buch „Eine Politik für morgen“, herausgegeben von Mark Hauptmann und Ralph Brinkhaus, versammelt Stimmen aus der „Jungen Gruppe“ der Unionsfraktion im Bundestag, erscheint an diesem Montag. Und an prominenter erster Stelle erscheint Amthors Text.

Nachdem diverse Nachrichtenmedien erste Meldungen über Amthors „Forderung“, eine Debatte über die Leitkultur zu führen, brachten, geschah, was immer geschieht, sobald eine prominente Persönlichkeit ein Reizwort sagt: Twitter explodierte. „Amthor“ war sehr schnell Trend Nr. 1 in Twitterdeutschland, direkt gefolgt vom Wort „Leitkultur“.

Öl ins völkische Feuer

Die empörten Nutzer beeilten sich, Amthor fehlendes Fingerspitzengefühl zu attestieren. Erst gerade habe es mit der Wahl von Thomas Kemmerich den „Dammbruch“ zur AfD gegeben, erst gerade sei ein rechtes Terrornetzwerk kaltgestellt worden, und Amthor falle nichts Besseres ein, als mit der Leitkultur-Debatte noch mehr Öl ins völkische Feuer zu gießen. Nur: Die Erscheinung des Buchs war schon längst geplant, die Beiträge unterlagen bis zum 17. Februar einer Sperrfrist. Dass Medien aus dem Buch zitieren und Amthors Beitrag aufgreifen, dafür kann der junge Abgeordnete nun wirklich nichts.

Die Frage ist, ob das den empörten Twitternutzern überhaupt bewusst ist oder ob es Ihnen nicht völlig egal ist. Denn der Verdacht liegt nahe, dass sie lediglich diverse Überschriften gelesen hatten und prompt in den „Das darf doch wohl nicht sein!“-Modus umschalteten. Dabei dürften sie einerseits übersehen haben, dass es sich eben um einen längst geschriebenen Buchbeitrag handelte, aber auch, dass die Thesen und Forderungen, die Amthor im Text aufstellt, nicht sonderlich neu sind und wenig zur Aufregung taugen.

Amthor dürfte sich freuen

Auch Amthor schafft es in seinem knapp zehnseitigen Aufsatz nicht, zu definieren, was die sogenannte Leitkultur eigentlich sein soll. Aber er ahnt schon von vornherein, dass der Text eine empörte Debatte auslösen dürfte: „Ein Werben für eine neue Leitkultur-Debatte provoziert vorhersehbare Kritik. Diese beginnt häufig schon mit reflexhaften Abwehrreaktionen gegenüber dem Begriff der Leitkultur“, schreibt der CDU-Abgeordnete zu Anfang. Genau das ist eingetreten, aber hellseherische Fähigkeiten waren dafür nicht wirklich vonnöten.

Dass Amthor eine wie auch immer geartete Leitkultur und einen „gesunden Patriotismus“ für ein geeignetes Mittel im Kampf gegen Populismus hält, dass es neben den „bunten Multikulti-Straßenfesten“ auch „dunkle Nebenstraßen“ gebe, wie er die Probleme der Integration umschreibt, könnte man diskutieren. Viel leichter ist es allerdings, sich zu empören und damit jeden Diskurs von vornherein zu unterbinden. Diese Empörung scheint die wahre Leitkultur unserer Zeit zu sein. Amthor allerdings dürfte sich freuen: Sein Name kursiert wieder in sozialen Netzwerken und auf den Nachrichtenseiten und das Buch erhält kostenlose Werbung.  

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