Coronavirus im Internet - Noch viraler als Corona sind nur die Verschwörungstheorien

Jetzt mal ganz unter uns, fragen Sie sich auch, welche Mächte hinter dem Coronavirus stecken? Ist man einmal mit einer Verschwörungstheorie infiziert, wird man nur schwer wieder gesund. Der Philosoph Jan Skudlarek empfiehlt: Verschwörungstheoretiker ab in Quarantäne.

Schnell noch Hamstern, bevor die Apokalypse kommt: In Krisenzeiten haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur / dpa
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Autoreninfo

Jan Skudlarek (*1986), ist promovierter Philosoph und Sachbuchautor. Zuletzt erschien "Wahrheit und Verschwörung: Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist" bei Reclam. Twittert. Foto: Manuel Schamberger

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Deutschland, März 2020. Die Übertragung scheint allerorts kaum aufzuhalten zu sein. In der Betriebskantine. Von der Schule bis zum Altenheim. In der Straßenbahn und in der Kneipe und im Club. Selbst in unseren Wohnzimmern. Aber vor allem: Im Internet. Die Gefahr – sie ist omnipräsent. Immer von Mensch zu Mensch, es reicht schon eine kleine ... Moment. Was heißt hier „im Internet“? Geht es etwa gar nicht um das Coronavirus? 

Gut erkannt. Wenn sich irgendetwas viraler verbreitet als das Virus selbst, sind es die dazugehörigen Coronavirus-Verschwörungstheorien. Da gibt es doch so ein Labor in Wuhan. Davon gehört hat jeder. Dort kommt das Virus eigentlich her, als Biowaffe. Designed von Forschern. Fest steht auch: Irgendwer profitiert davon. Vermutlich nicht zu knapp. Vor allem aber kam der ganze Virus-Kram ganz schön plötzlich. Geht nicht mit rechten Dingen zu. Oder ist Corona vielleicht nur ein perfider Plan internationaler Pharmafirmen? Irgendwelche globalen Eliten gewinnen selbst bei fallenden Börsen; Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und überhaupt: Jemand steckt dahinter. Verarscht uns. Oder doch alles nur ein verkaufsfördernder Medien-Hype? Wäre nicht das erste Mal – untergegangen ist die Welt ja noch nie. Trotz wiederkehrender medialer Weltuntergangsstimmung. Ich. Stelle. Doch. Nur. Fragen.

Fiebertraumartige Fantastereien

So oder so ähnlich klingen Corona-Verschwörungstheorien. Besser: „Theorien“. Es sind ja vielmehr Möchtegerntheorien, die sich zusammensetzen aus Spekulationen, Halbwahrheiten und fiebertraumartigen Fantastereien. Schaut man genauer hin, ergeben sich Gemeinsamkeiten. Immer gibt es ein Bedrohungsszenario („Wir sind in Gefahr“), ein Täuschungsszenario („Wir werden belogen“) und geheime Akteure, die Bedrohung und Täuschung zu ihrem Wohl organisieren und aufrechterhalten. Das sind die Grundpfeiler jedweden Verschwörungsdenkens. Die immer gleichbleibenden Elemente. Die Grundbausteine, bei denen man hellhörig werden sollte. „Ihr Verschwörungstheorie-Schnelltest-Ergebnis ist leider positiv. Bleiben Sie ein paar Wochen zu Hause und reden Sie mit niemandem.“

Deutschland hat sich verändert. So viel steht, ganz konspirationsfrei, fest. Wörter wie „Husten- und Nies-Etikette“ sind mittlerweile zu Recht öffentliches Vokabular. Armbeugen werden beniest wie noch nie. Wer sich im Supermarkt noch in die Hände hustet, wird angeschaut wie ein Aussätziger. Wie ein Neandertaler. Wie einer, der die neuen Regeln nicht verstanden hat – und somit bald rausfällt aus dem survival of the fittest. War schön, dich kennengelernt zu haben. Denn die Spielregeln des sozialen Miteinanders ändern sich immer und allezeit, aber besonders in Krisenzeiten bröckelt das Konventionelle, verkehrt sich mitunter ins Gegenteil. Hände nicht zu geben ist die neue Höflichkeit. Empfiehlt selbst die Kanzlerin. Und wer sich ins Gesicht fasst? Todgeweiht! Um sich lang genug die Hände zu waschen (20 Sekunden Untergrenze), summen manche Zeitgenossen dabei zweimal den Refrain von Happy Birthday, wie es die WHO empfiehlt, andere vielleicht den Text von „Atemlos durch die Nacht“, und die Mathematiker unter uns wiederholen womöglich Pi bis zur letzten bekannten Kommastelle. Deutschland hat sich verändert. Gesundheit!

Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur

Zwischen gebotener hygienischer Vorsicht und prä-apokalyptischen Toilettenpapierbergen finden auch sie ihren Platz im Sozialleben: Verschwörungstheorien. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Auch hier lautet das ungeschriebene Gesetz: Immer – aber besonders in Krisenzeiten. Die Sozialpsychologen Jan-Willem van Prooijen und Karen M. Douglas haben unter anderem den Zusammenhang zwischen Krisensituationsverhalten und Verschwörungstheorien analysiert. Das Ergebnis ist eindeutig: In Krisenzeiten steigt die Bereitschaft der Menschen, an geheime Machenschaften böswilliger Verschwörergruppen zu glauben.

Ganz gleich ob es sich dabei um Naturkatastrophen, Krieg oder Terrorismus (Stichwort: 9/11) handelt. Angst, Unsicherheit und gefühlter Kontrollverlust verrühren sich in den Köpfen der Menschen zu einem unguten Cocktail. Wie von selbst ziehen sich gedankliche Verbindungen, wo die Wirklichkeit sie nicht hergibt – und schon ist Corona eine aus dem Labor entfleuchte Biowaffe. Also vielleicht. Habe ich online irgendwo gelesen. Und überhaupt, man wird doch wohl noch fragen dürfen?! Ein Labor für Seuchenbekämpfung gibt es übrigens tatsächlich in Wuhan; pure Spekulation ist allerdings, dass das jetzige Coronavirus wirklich aus diesem Labor ausgebro- … Mo-ment! Haben Sie gerade etwa in Ihre Hand gehustet?

Auf der Suche nach der Privatwahrheit

In Zeiten, in denen der US-Präsident so ziemlich keine Verschwörungstheorie nicht glaubt, scheint jeder auf der Suche nach seiner Privatwahrheit, ganz unabhängig von Tatsachen und Faktenlage. Etwas reduziert formuliert: Es herrscht das „Viel Meinung, wenig Ahnung“-Prinzip. Auch das ist, ohne von der WHO so klassifiziert worden zu sein, mittlerweile pandemisch. Man schämt sich nicht mehr, auch mal Abwegiges zu glauben. Und zwar selbstbewusst! Wohin man sieht: Impfgegner hier, Klimawandelleugner da. Der kleine Mann ist längst nicht mehr klein.

Er hat mittlerweile an der YouTube-Universität promoviert; und lässt sich längst nicht mehr von irgendwelchen Bildungseliten die Welt erklären. Und dieses Erklärungsverweigerungsphänomen bleibt keineswegs auf individueller Ebene. Die sogenannte WerteUnion, die „Früher war alles besser“-Fraktion und gleichzeitig der Xenophobie-Leistungskurs innerhalb der CDU, ist mittlerweile kollektiv ins wissenschaftsfeindliche Lager der „Klimaskeptiker“ gewechselt. Schenkt man ihrem Vorsitzenden Alexander Mitsch Glauben, ist nicht etwa „Hände waschen, Abstand halten“ das Credo der Stunde, sondern er verkündet auf Twitter in bester Keine-Panik-auf-der-Titanic-Manier: Corona sei „Medienhype“ und „die neue Greta“. Ok, Boomer.

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Mitunter hat man den Eindruck: Der Nonsens gewinnt. Über zweihundert Jahre nach der Aufklärung, die uns aus den dunklen Tälern von Vorurteil, Religion und Aberglaube befreien wollte, glauben die Menschen wieder an unsichtbare Player aus dem Off. Nur sind es diesmal nicht die Götter, die unser Schicksal lenken, uns insgeheim manipulieren, sondern die bösen Regierungen, Pharma-Firmen, Medien und Milliardäre. Das Vaterunser der Konspirationisten heißt „Cui bono?“ und endet auf „Man wird ja wohl noch fragen dürfen.“.

Screenshot "Der goldene Alu-Hut" bei Facebook

Das konspirative „X ist in Wahrheit Y“-Schema, nach dem Verschwörungstheoretiker immer wieder verfahren, lässt sich je nach Belieben mit Leben füllen. Natürlich auch im Fall von Corona. Und es verbreitet sich rapide. Corona sei in Wahrheit eine Biowaffe. Eine Strafe Gottes. Amerikanisch-jüdisches Komplott. Schon 1981 in einem Roman von Dean Koontz prophezeit worden. Diese und weitere Ansichten geistern durch das Netz als (mitunter absichtliche) politisch-kulturelle Fehldeutungen – gesellschaftliche Bedrohungen und Umbrüche werden jeweils so instrumentalisiert, dass sie in die eigene ideologisch gefärbte Weltsicht passen. Schuld sind immer die, die das eigene Team nicht mag. Die anderen. US-Präsident Trump mischt Verschwörungstheorie und Ausländerfeindlichkeit, indem er Corona als „ausländisches Virus“ betitelt; und somit, bauernschlau, seiner Rede an die Nation ein Wir-Gegen-Die-Framing gibt. Wer eine Verschwörungstheorie andeutet, braucht Sündenböcke. Wer an der Macht bleiben will, auch. 

Kleine Waschung, große Wirkung

Das wirkliche Motto der Stunde lautet: #FlattenTheCurve. Die Kurve glätten. Oberste Priorität hat die Verlangsamung der Infektionsskurve. Jener Kurve, die bei exponentiellem Wachstum einen spitzen Höhepunkt erreicht, bevor sie irgendwann, nach womöglich vielen Toten, wieder abnimmt. „Jeder kann und sollte mithelfen, das Virus zu verlangsamen“, so Gesundheitsminister Jens Spahn. In den Worten von Bundeskanzlerin Merkel: „Es geht um das Gewinnen von Zeit“. Jeder Mensch, der nicht krank wird, soll seine Gesundheit um seiner selbst Willen behalten, natürlich – darüber hinaus aus systemischen Gründen. Als Gesunder benötigt man keine Ressourcen, die das Gesundheitssystem nur in begrenzter Zahl verfügt (Medikamente, Ärzte, Betten, Aufmerksamkeit). So verhindert individuelles Händewaschen, ins Abertausendfache skaliert, den totalen Systemcrash. Kleine Waschung, große Wirkung.

#FlattenTheCurve gilt jedoch nicht nur für das Coronavirus selbst. Auch das Grassieren von Coronavirus-Verschwörungstheorien müssen wir verlangsamen. Wer das Coronavirus für einen „Medienhype“ hält, wäscht sich nämlich weniger gründlich die Hände. Wer meint, dass geheime Mächte eh die Welt lenken, hat logischerweise weniger Grund, in der Straßenbahn Abstand vom Nebenmann zu halten; weil, aus verschwörungstheoretischer Perspektive, die Schattenmächte ihren Willen so oder so geschehen lassen. Wo es keine Kontrolle gibt, gibt es keine Verantwortung. Fakt ist: Konspirative Gedanken schlagen sich ganz real wieder – in mitunter unverantwortlichen Handlungen einzelner Menschen. Ob es um politische Partizipation und Umweltverantwortung geht oder um das Impfverhalten. Was wir denken, wirkt wirklich.

Spekulationen widersprechen

So, wie wir die Ausbreitung des Coronavirus durch Husten- und Nies-Etikette, durch Home Office und Abstandhalten verringern, so können wir auch die Verbreitung von Verschwörungstheorien durch Maßnahmen verzögern. Zum Beispiel, indem wir sie nicht auf Facebook teilen. Sie nicht retweeten. Nicht dem Kollegen in der Betriebskantine von der chinesischen Biowaffe erzählen. Widersprechen, wenn jemand wilde Spekulation als „Man wird ja wohl noch fragen dürfen“-Fragen in den Raum stellt. Argumentieren, wenn jemanden Impfungen verteufelt und Pharmafirmen gleich mit. Dagegenhalten, wenn Politiker der Volkszorn trifft, sei es online oder offline. 

In der angewandten Psychologie meint man mit „Psychohygiene“ die Lehre vom Aufrechterhalten der psychischen Gesundheit. Insofern geht es auch im Coronafall nicht nur um Hygiene, sondern auch um Psychohygiene. Darum, dass wir möglichst gesund bleiben als Individuen und als Kollektiv. Ob Sie nun am Coronavirus erkrankt sind oder Coronavirus-Verschwörungstheorien verbreiten: Mein Rat ist in beiden Fällen derselbe: Bleiben Sie vielleicht vorerst daheim. Kommen Sie anderen nicht zu nah. Bitte stecken Sie niemanden an! Gesundheit! 
 

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