Corona-Strategie der Bundesregierung - Umdenken statt alter Rezepte

Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass die Politik kaum dazulernen will – obwohl die Pandemie nun schon ein ganzes Jahr dauert. Die Rechtsphilosophin Monika Frommel plädiert in ihrem Gastbeitrag für einen Strategiewechsel.

Altenpflegerinnen führen im Tübinger Pauline-Krone-Seniorenheim Corona-Schnelltests durch / dpa
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Monika Frommel war 1988 bis 1992 Professorin für Rechtsphilosophie und Strafrecht in Frankfurt und von 1992 bis 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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Monika Frommel war 1988 bis 1992 Professorin für Rechtsphilosophie und Strafrecht in Frankfurt und von 1992 bis 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Die deutsche Corona-Politik gleicht mitunter einem religiösen Einschwörungs-Ritual, abweichende Ansichten werden oft wie Häresien gebrandmarkt. Waren die Auftritte der Kanzlerin im März und an Ostern 2020 noch eindrucksvoll, wirken sie mittlerweile nur noch hilflos. Auch wäre die Akzeptanz der ergriffenen Maßnahmen höher gewesen, sie hätte früh die parlamentarischen Kontrollen genutzt und zu hektischen staatlichen Aktivismus vermieden. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Ärgerlich, dass es zu wenig sachliche Kritik gab. Doch lag dies auch an der Ausgrenzung abweichender fachlicher Positionen.

Kritik an der Corona-Politik erfordert Mut und interdisziplinäre Kenntnisse. Beides ist knapp. Außerdem wird eine objektive Beurteilung der Corona-Lage und Corona-Politik erschwert, weil es keine aktuellen Studien gibt. Alle Maßnahmen orientierten sich ausschließlich an den festgestellten Neuinfektionen.

Problematisch daran ist die Tatsache, dass die Gefahr schwerer und tödlicher Erkrankungen auf der Basis der Neuinfektionen überhaupt nicht prognostiziert werden kann. Solche Folgen hängen nicht vom allgemeinen Infektionsgeschehen ab, sondern von ganz anderen Faktoren, nämlich Alter, Übergewicht und Vorerkrankungen. Das Virus wirkt für alle zumindest unangenehm, aber je nach individuellen Immunsystem schädigt es eben nicht alle gleichermaßen.

Die Zahlen sind „ganz schrecklich“

An einem Beispiel lässt sich der Denkfehler, dem offenbar auch Angela Merkel anhängt, gut belegen: Karl Lauterbach meinte am 27. Januar im Gespräch mit Sandra Maischberger, dass insbesondere die Zahl der Neuinfektionen sehr relevant sei. Nach wie vor würden etwa 1,1 Prozent der Infizierten sterben, dies seien dann um die 1000 Tote pro Tag. Da sei es ihm egal, wie gut oder schlecht die Intensivmedizin aufgestellt sei, diese Zahl sei „ganz schrecklich“.

Tatsächlich sterben aber nur dann die angenommenen x-Prozent der Neu-Infizierten, wenn die Mängel des Schutzkonzeptes konstant schlecht bleiben. Neuinfektionen führen nur in Altenheimen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu Toten. Lauterbachs Rechnung stimmt somit nur vordergründig. Würde man nämlich den Schutz erhöhen, was angesichts der verfügbaren Schnelltests möglich ist, verringerten sich die Neuinfektionen in dieser Gruppe erheblich. Doch wagt die Politik dies nicht zu offenbaren; zu schwerwiegend wäre das Eingeständnis, dass diese „schrecklichen“ Zahlen nicht nur dem Virus angelastet werden können, sondern auch Folgen einer Politik sind, welche zwar von oben Verbote erlässt, aber nicht von unten die Qualität des jeweiligen Risiko-Managements verbessert. 

Nur dieser Denkfehler erklärt die Monotonie der Politik des permanenten Lockdowns. Es gibt weder eine unabhängige Evaluation noch eine offene Debatte. Das selektiv ausgewählte virologische Beraterteam der Regierung vertritt angeblich „die Wissenschaft“. Andere Sichtweisen als die des Beraters Christian Drosten, etwa die moderate Sicht von Hendrik Streeck und die illusionslose Ansicht von Matthias Schrappe, dass man im Winter die Infektionszahlen nicht radikal drücken könne, werden abgewehrt. Hinzu kommt: Das Robert-Koch-Instituts (RKI) ist alles andere als unabhängig, sondern weisungsgebunden.

Verlässliche Studien fehlen 

Gerichte wiederum können die jeweiligen Maßnahmen nur schwer beurteilen, weil das Infektionsschutzgesetz die angestrebten Ziele nicht gewichtet. Auch sind die Eingriffsbefugnisse erheblich und letztlich von politischen Vorgaben abhängig. Gerichten fehlen deshalb die Prüfungsmaßstäbe. Auch können sie die genannten Tatsachen nicht beurteilen, weil verlässliche Studien fehlen. Dies erklärt, dass wir auch nach einem Jahr nicht wissen, wie stark die Gesellschaft tatsächlich durchseucht ist und welche Maßnahmen wirken. Es existieren nur rechnerische Simulationen. Dass Kontaktvermeidung günstig ist, bestreitet niemand, aber welche Kontakte besonders schädlich sind, ahnen wir nur.

Besonders gravierend hat sich meines Erachtens ausgewirkt, dass darauf verzichtet wurde, die zahlreichen erfahrenen Präventions-Experten einzubeziehen. Gehandelt wurde in einer Stimmung von „Pro & Contra“, nicht in einem Klima des rationalen Diskurses. Es ging um Affirmation oder Gegnerschaft, nicht um relativ angemessenere und sozial weniger schädliche Alternativen. Mit der seit Januar vom RKI geäußerten „Sorge wegen der neuen Mutationen“ steigert sich nun die Ungewissheit und die Fixiertheit auf Neuinfektionen erneut. Kein Umdenken ist in Sicht; denn Mutationen lassen sich nur – so meinen es die Befürworter der bisherigen Politik – mit repressiven Methoden fernhalten.

Seit einem Jahr dominiert eine exekutive Politik. Darunter versteht man einen Politikstil, der nur über Verordnungen und Anweisungen von oben regiert. Vorhandene und effektive Strukturen, etwa das System der Hausärzte, Beratungsstellen, ehrenamtliche Helfer und für innovative Lösungen geeignete Netzwerke, können nicht angesprochen werden. Weisungsabhängige Gesundheitsämter werden beauftragt, Ministerien müssen die Bund-Länder-Beschlüsse umsetzen und handeln so, wie sie eben handeln können: über Verordnungen, Allgemeinverfügungen, Verbote und Kontrollen. Erst die Enttäuschung über die Verzögerung der Impfungen im Januar 2021 hat die Debatte wieder ein Stück weit geöffnet. Doch sollte sich die Kritik nicht gegen die Impfpolitik richten, sondern Alternativen zum Schutz der vulnerablen Menschen anstoßen.

Zielgenauer Schutz

Ende Januar 2021 waren etwa 57.000 Menschen im Zusammenhang mit Corona gestorben. Davon waren fast 47.000 über 80 Jahre alt. Der Höchststand von 1244 neuen Todesfällen stammt vom 14. Januar dieses Jahres. Dies lässt in meinen Augen nur einen Schluss zu: Neuinfektionen müssen nach Möglichkeit verringert werden, aber vulnerablen Gruppen hilft diese Strategie nicht. Sie bedürfen eines besonderen Schutzes. Dieser kann nicht von oben angeordnet werden, sondern muss von den Beteiligten vor Ort organisiert und umgesetzt werden. Denn das Virus tötet nicht gleichmäßig alle Erkrankten, es trifft vielmehr erheblich Vorbelastete mit großer Wucht. Jüngere Menschen erkranken nur ganz selten, Kinder so gut wie nie. 

Die Risiken für einen schweren Verlauf und die altersspezifisch unterschiedlich hohe Letalität kennen wir bereits seit April 2020, doch Konsequenzen wurden nur unzureichend gezogen. Zwar versuchte man auf das allgemeine Infektionsgeschehen einzuwirken, doch kann diese Strategie nur ein Aspekt sein. Der andere muss sich mit dem zielgenauen Schutz befassen. Doch offenbar hatten die Gesundheitsministerien bis Januar 2021 keinen Plan, wie man besonders vulnerable Menschen schützen kann: Weder gab es eine Logistik, noch eine gut finanzierte Organisation zur Umsetzung eines Schutzkonzeptes – von einer guten Öffentlichkeitsarbeit ganz zu schweigen. Die Risiken der in Heimen Untergebrachten und ambulant Versorgten wurden daher nicht systematisch, sondern nur punktuell durch Einschränkung ihrer Kontakte verringert.

Monoton galt und gilt das Credo: Bleibt zuhause! Kontaktverringerung schützt aber nicht besonders vulnerable Menschen, denn diese bleiben ohnehin zuhause. Aber sie müssen regelmäßig getestet werden ebenso wie alle, die mit ihnen engen Kontakt haben, um zu verhindern, dass Infizierte in den Heimen oder Wohnungen unerkannt Erkrankungen auslösen, denen diese Menschen dann ungeschützt ausgesetzt sind.

Es geht mir nicht darum, die europäische (und damit eher langsame) Impfstrategie zu kritisieren. Deutschland sollte sich keine Alleingänge erlauben. Fehlender Schutz kann – angesichts der Knappheit der Impfstoffe – nicht aufgefangen werden durch systematische Impfungen. Außerdem weiß man nicht, ob alle Impfstoffe sich für Ältere eignen. Es muss also auf andere Weise gehandelt werden. Doch erst im Januar lernte die Politik dazu. Warum so spät? Die Hindernisse hätten doch längst überwunden sein können.

Kein Schutz für vulnerable Gruppen

Historisch geht der unzureichende Schutz auf die Situation im Frühjahr 2020 zurück. Damals gab es noch zu wenig Schutzkleidung, keine ausreichenden Vorräte an Masken und nur wenig und schwer handhabbares Testmaterial. Es war also plausibel, die Altenheime und die ambulante Altenbetreuung, auch pflegebedürftige Behinderte nicht regelmäßig präventiv zu testen und stattdessen Besuchsverbote und sehr strenge Auflagen zu verhängen (jeweils durch Allgemeinverfügungen der Länder). Doch der damalige Tunnelblick ist als dauerhafte Strategie nicht zu rechtfertigen. Lockdowns können zwar die Zahlen der Neu-Infektionen auf einem hohen Niveau stabilisieren. Einen Schutz für vulnerable Gruppen bieten sie aber sicher nicht.

Die Gründe liegen auf der Hand: Infektionen (die gemessene Viruslast) sind noch keine Erkrankungen, sondern bergen lediglich die Gefahr einer Erkrankung. Die Gefahr schwerer und im Einzelfall auch tödlicher Erkrankungen hängt jedoch von anderen Faktoren ab. Dass diese sich insbesondere in der Alterskohorte 80-Plus kumulieren (schlechtes Immunsystem, Vorerkrankungen), wusste man schon im März, als sich in Bergamo die Särge stapelten. Die italienische Katastrophe zeigte bereits überdeutlich den Zusammenhang. Unverständlich daher, dass keine kluge Prävention stattfand.

Eine Erklärung dafür liegt meines Erachtens in der Zusammensetzung und der Fachkompetenz der Berater. Virologen verstehen viel von Viren, aber wenig oder gar nichts von Prävention, geschweige denn von den institutionellen Bedingungen, um die Arbeit in Altenheimen zu verbessern. Hört die Politik vor allem auf Virologen, denkt sie nicht daran, Netzwerke zu organisieren, um vulnerable Menschen besser zu schützen. Leider verfestigte sich der Tunnelblick der Politik und hielt sich bis Januar. Erst die gescheiterte Impf-Strategie veränderte die Prioritäten: Man erkennt, dass es einer Logistik, Organisation und Umsetzung von Präventionsprogrammen bedarf. Das ist jedoch die Domäne ganz anderer Experten.

Lücken in der Beweisführung

Trotz der genannten Lücken in der Beweisführung wird immer noch so getan, als könne man mit den angenommenen Inzidenzwerten rechnen. Verstärkt wird diese Sicht durch die neuen Mutationen. Aber auch hier gilt die Erfahrung des Jahres 2020: Setzt man ausschließlich auf eine Strategie des Eindämmens der Infektionen (Containement) und vernachlässigt die gezielte Prävention (Cocooning), opfert man ungewollt die besonders Schutzwürdigen für ein illusorisches Ziel. Zumal der Anstieg der Neu-Infektionen auch saisonale Gründe hat; der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr etwa äußerte früh seine Bedenken und zeigte schon im November 2020, dass es illusorisch ist zu glauben, man könne durch harte Maßnahmen in Nordeuropa – angesichts der dort üblichen Grippe-Wellen und der zahlreichen Atemwegserkrankungen im Winter – Infektionen auf so niedrige Werte herunter drücken, dass rein rechnerisch die Zahl der benötigten Behandlungen in Intensivstationen der jeweils vorhanden Kapazität entspricht.

Unerreichbare Ziele führen zu einer Politik des „mehr vom selben“. Doch wären effektive Alternativen offenbar möglich gewesen, denn bereits im Oktober waren Schnelltests verfügbar. Die Notärztin Lisa Federle zeigte im sogenannten Tübinger Modell, dass sie mit ihrem Arzt-Mobil alle Altenheime in ihrem Tätigkeitsbereich schützen kann. Auch die ambulante Altenpflege ist so erreichbar. Aber ihr Projekt wurde nicht ernst genommen und blieb rein lokal.

Erst jetzt beginnt ein Umdenken. Noch im Dezember war man überzeugt, dass es das Verhalten der Bevölkerung sei, welches das Infektionsgeschehen präge. Doch das Verhalten der Bevölkerung kann man nicht wirklich mit „Volkspädagogik“ steuern. Deren Wirkung bleibt begrenzt. Hingegen hilft eine gezielte Prävention. Diese müssen die Länder und Kommunen zusammen mit den Betroffenen von unten organisieren. Verändert werden muss das System der Altenpflege und der Umgang mit Behinderten. Erst wenn durch Impfung eine Herdenimmunität erreicht ist, sind auch diese Menschen geschützt, und es kann aufgeatmet werden.

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