Corona-Krise - Mutter Staat wird es nicht richten

Die Probleme von EU und Bundesregierung bei der Impfstoffbeschaffung offenbaren, wie wenig analytisch die handelnden Politiker vorgehen. Wir erleben einen Staat, der die Geschwindigkeit einer globalisierten Welt nicht aushält: nicht im Wettbewerb mit transnationalen Unternehmen und nicht in der Bekämpfung einer globalen Epidemie.

Angela Merkels Hände während der letzten Bundestagssitzung des Jahres am 16. Dezember / dpa
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Johannes Knewitz berät in Frankfurt Konzerne und Mittelständler bei der globalen Aufstellung ihrer Organisations- und Führungsstrukturen.

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Wir haben heute, nahezu ein Jahr nach dem ersten Auftreten des Virus, eine unfassbar schlechte Datengrundlage. Augenscheinlich wurde das, als nach Weihnachten 1.000 Covid-Tote an einem Tag gemeldet wurden und dann zu lesen war, das könne allerdings auch der Meldeverzug über die Feiertage gewesen sein. Sprich: gemeldet werden zwar die Verstorbenen, aber nicht mit Sterbedatum.

Das ist so schlecht, dass es fast nicht vorstellbar ist. Es sind vorhandene Daten, die einfach schlecht aufbereitet sind. Dieses Beispiel ist gleichzeitig gar nicht so relevant, weil diese Zahlen sich mitteln lassen. Viel schwerer wiegt die schlechte Ermittlung der Inzidenzrate, die die Grundlage massiver Grundrechtseinschränkungen bildet. Für diese wird schlichtweg die Zahl der positiv Getesteten gezählt - ganz unabhängig von der aktuellen Teststrategie.

Schlecht aufbereitete Daten als Grundlage schwerwiegender Entscheidungen

Wurden im Oktober beispielsweise noch zahlreiche Reiserückkehrer anlasslos getestet, was zu mehr Zufallsfunden und gleichzeitig einer geringeren Positivquote unter den Tests führte, wird mittlerweile wieder deutlich anlassbezogener getestet, also maßgeblich Kontakte von Covid-Erkrankten. Die Zahl der durchgeführten Tests schwankt über die Monate erheblich. Die Ermittlung der Inzidenzrate bleibt währenddessen gleich.

Es gibt keine andauernden, ordentlich erhobenen Stichproben, die einen Hinweis auf Abweichungen der durchgeführten klinischen Tests von der tatsächlichen Infektionsrate geben und so die Zahlen zu normieren helfen würden. Das, was wir in der wöchentlichen "Sonntagsfrage" verschiedener Umfrageinstitute zu so einer irrelevanten Thematik wie der aktuellen Parteienpräferenz statistisch stark eingeordnet bekommen, kennen wir zum Thema Pandemie nicht. Wir kennen Rohdaten klinischer Tests, die in etwa vergleichbar sind mit der Erhebung abgefahrener Reifen aufgrund der Analyse von Autos in Werkstätten, inklusive Oktober und Ostern.

Auch die Details kennen wir nicht: es gibt keine bundesweit aggregierten Daten zu Pflegeheimen und Altenheimen. Schätzungen schwanken hier um hundert Prozent, zwischen ein und zwei Drittel der Toten kämen aus solchen Einrichtungen, ist zu lesen. Von Schulen hingegen kennen wir recht genaue Zahlen, die die Kultusministerkonferenz bis zum aktuellen Lockdown wöchentlich berichtet hat. Sie weisen darauf hin, dass Schulen kaum Infektionstreiber seien.

Ressourcen werden verschwendet

Allerdings wird hier von Kritikern zurecht moniert, dass Klassen ohne Tests in Quarantäne geschickt werden, wenn ein potentielles Ansteckungsrisiko bekannt wird. Ob diese Kinder dann zu Hause eine Infektion auskurieren oder kerngesund sind, bleibt unklar. Vielleicht kann man ja nicht alle Kinder testen, aber auch hier gibt es keine Stichproben.

Jede fünfte Klasse, die in Quarantäne geschickt wird, zu kontrollieren, wäre eine deutlich sinnvollere Aufgabe für ein Gesundheitsamt, als hilflos Leuten hinterherzutelefonieren, die ihre Kontakte besser selbst informieren oder dies ohnehin schon getan haben.

Ohnehin wären die Gesundheitsämter ein guter Hebel zur Erhebung der nötigen Daten. Wenn die nun schon so viel telefonieren – weshalb werden da nicht genaue demographische Daten abgefragt und statistisch ausgewertet? Zu hören ist, dass ein gewisser Prozentsatz der Infektionen zurückverfolgt werden könnten, der Rest nicht. Es sei unklar, wie weit Restaurants, ÖPNV, Fitnessstudios etc. eine Rolle spielen und die meisten Infektionen kämen aus der Familie.

Letzteres ist natürlich eine Binse. Gerade diese Zahlen müssten als grundlegend evident herausgerechnet werden; spannend ist doch nur, wodurch der Eintrag in eine „Infektionsgemeinschaft“ geschieht. Aber Statistiken in der Differenziertheit, wie sie die Exit Polls nach jeder Landtagswahl im Saarland erreichen, werden nicht veröffentlicht.

Auf dieser kaum vorhandenen Datengrundlage werden nun Entscheidungen getroffen, die massive Auswirkungen haben. Die Argumentationslinie ist dabei allzu oft "wir wissen es nicht genau, aber weil Vorsicht geboten ist, nehmen wir mal das Schlimmste an". Damit werden dann allerdings nicht nur massiv Freiheiten eingeschränkt, wo es vielleicht gar nicht nötig wäre. So wird auch im Handeln der Exekutive und in den Ausgaben schlecht priorisiert und Maßnahmen werden nicht oder unzureichend umgesetzt, die hoch relevant sein könnten. Im Zweifel sterben dadurch auch Menschen.

Jeder Mittelständler kann es besser

Eine ordentliche Datengrundlage wäre eine absolute Notwendigkeit für zielführende wie zielgerichtete politische Entscheidungen. Außerhalb der Politik ist das selbstverständlich. Was da aktuell passiert, ist, als würde ein internationaler Großkonzern nur seine Einnahmen und Ausgaben kennen, hätte aber keine darüber hinausgehende Datenanalyse.

Jeder Mittelständler hat eine direkte Kostenumlage auf seine Produkte, kennt für jedes Teil die Marge und priorisiert anhand dessen Investitionen, plant Kapazitäten und stellt Prognosen an. Auf oberster politischer Ebene, beim zentralsten politischen Thema der letzten Jahrzehnte, agiert die Politik weitgehend freihändig. Dabei können Kosten hier nicht das Thema sein. Die hunderten Milliarden, die ausgegeben werden, um das Land stillzulegen, rechtfertigen nahezu jeden Betrag, die Entscheidungsgrundlagen dafür zu optimieren.

Auch dass zur Datengewinnung keine Testkapazitäten vergeudet werden dürfen, die für den Gesundheitsschutz bestimmt sind, ist nicht nachvollziehbar, wenn man sich die starken Schwankungen der durchgeführten Tests über die Zeit und die Verfügbarkeit privater Testlabors betrachtet.

Zeit und Geld sind keine Argumente

Die Zeit hätte freilich auch gelangt. Kein Unternehmen kann sich ein Jahr gönnen, bevor es relevante Analysen vornimmt, aber das Argument ist ohnehin hinfällig - denn bis heute wurde ja nicht einmal damit begonnen, irgendwelche Strukturen aufzubauen. Es hätte die Möglichkeit bestanden, eine Projektgesellschaft für dieses Unterfangen zu gründen, oder private Dienstleister dafür anzuheuern, wenn der riesige Apparat an Behörden und Ämtern dazu schon nicht in der Lage ist.

All dies unterblieb. Selbst als das Robert-Koch-Institut zur besseren Bewältigung dieser Herausforderung 68 neue Stellen in der IT beantragt hat, bewilligten die koalitionstragenden Parteien im Bundestag nur vier davon. Bis heute werden Erkenntnisse über das Virus also vor allem der Fachpresse entnommen. Es werden Daten - mit Ausnahme der aufgeführten schlechten Daten des RKI - nicht gezielt, im Auftrag und vor dem Hintergrund der Entscheidungsrelevanz erhoben, sondern es wird den Forschungseinrichtungen überlassen, sich nach Belieben und Vermögen mit dem Virus auseinanderzusetzen und Studien zu veröffentlichen, die sich wahlweise um eine Schule in Hamburg, ein Altenheim in Bayern oder die statistische Wirksamkeit der Schließung von bestimmter Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft kümmern.

Schon im Frühjahr wurde dieser Kurs vorgegeben, als das RKI davor warnte, Covid-Tote zu obduzieren und die erste Stichprobenstudie in Deutschland überhaupt alleine der persönlichen Initiative von Hendrik Streeck zu verdanken war. Seitdem hat sich scheinbar nur wenig geändert.

Entscheidungsparameter Oberflächlichkeit

Nun wird also die Zeit der Krisenbewältigung durch ein freihändiges Ausbalancieren nicht-pharmazeutischer Interventionen allmählich abgelöst durch die Zeit der Impfungen. Und auch hier wiederholt sich die Oberflächlichkeit als maßgeblicher Entscheidungsparameter.

Kritik an den aktuellen Impfzahlen, insbesondere im Verhältnis zu anderen Staaten wie Israel oder den USA, wird schnell weggewischt durch vordergründige Argumente: Es sei unsolidarisch, wenn die reichen Länder den ganzen Impfstoff aufkauften; die Produktionsmenge sei aktuell nun einmal stark begrenzt; man habe ja ohnehin schon ein Mehrfaches der nötigen Impfdosen geordert und müsse nun einfach warten, bis diese kämen.

Solidarität mit den ärmeren Ländern?

Solche Argumente werden allerdings in großer Unkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge vorgebracht. Es sei ja Solidarität gewesen, über die EU einzukaufen, liest man allenthalben, als hätte das irgendeinen argumentativen Gehalt. Eine frühzeitige Versorgung ärmerer Länder wäre nämlich im Gegenteil eher gewährleistet, wenn die Abnahmegarantien reicher Staaten größer gewesen wären. Eine schnellere Impfung hierzulande hätte sogar wahrscheinlich positive Folgen für die Länder, die weiter hinten in der Schlange stehen. Die Impfstoffhersteller planen ihre Produktion mutmaßlich entlang der von ihnen prognostizierten Abnahme und Erträge über bestimmte Zeiträume.

Das bedeutet, wenn beispielsweise eine Anlage die für einen bestimmten Zeitraum vereinbarte Liefermenge zu einem bestimmten Preis produzieren kann, dann bleibt es bei dem einen Werk. Bei Verdopplung der vereinbarten Volumina würden allerdings zwei Anlagen errichtet, ebenfalls bei Verkürzung der vereinbarten Lieferzeiträume – selbstverständlich bei steigenden Kosten und Preisen. Somit würde jede Überbestellung durch reiche Staaten zu initial sehr hohen Preisen die Produktionskapazitäten erhöhen und Investitionen refinanzieren, wovon ärmere Länder nach Deckung des Bedarfs der reicheren Länder unmittelbar profitieren würden.

Hinzu kämen die überschüssigen Impfdosen in den reicheren Ländern, die – als wirklicher Akt der Solidarität – abgegeben werden könnten. So käme nicht nur eine größere Menge Impfstoff innerhalb eines bestimmten Zeitraums auf den Markt, en passant wäre auch bereits ganz zu Beginn der Impfkampagne, wo es um die höchst vulnerablen Gruppen geht, mehr Impfstoff verfügbar. Mittelbar würden die ärmeren Länder erst recht von einer zügigen Beendigung der Lockdowns ihrer Absatzmärkte profitieren, da die wirtschaftlichen Folgen dort die gesundheitlichen Effekte der Coronakrise häufig übersteigen.

Der Staat hält nicht mit

All diese Zusammenhänge, die Erhebung von Daten, tiefgehende Planung, Verständnis wirtschaftlicher Kreisläufe, entziehen sich offenbar dem politischen System in weiten Teilen. Damit stellen sich ganz grundsätzliche Fragen zur Handlungsfähigkeit der Politik, insbesondere wenn man sie ins Verhältnis zur Aktivität wirtschaftlicher Akteure setzt, die in genau diesen gerade beschriebenen Monaten nicht nur Impfstoffe entwickelt, sondern auch auf globaler Ebene ihre Lieferketten, Prozesse und Arbeitsorganisation ständig angepasst haben.

Die Krise, die wir aktuell erleben, offenbart die Krise dahinter: die eines Staates, der die Geschwindigkeit einer globalisierten Welt nicht aushält, nicht im Wettbewerb mit transnationalen Unternehmen und nicht in der Bekämpfung einer globalen Epidemie.

Der ganze Apparat ist jetzt schon wieder damit beschäftigt, das Vorgehen nachträglich zu legitimieren und die diffusen Eingaben von oben umzusetzen. Das lässt sich kaum Jens Spahn oder Angela Merkel persönlich anlasten, auch wenn deren Versuche zur Überwindung dieser Situation überschaubar bleiben. Nach der Pandemie werden wir uns grundsätzlich fragen müssen, wieviel Verantwortung eine Struktur, die zur Entscheidung so unfähig ist, jedem Einzelnen abnehmen sollte.

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