Corona und das Grundgesetz - Merkels zynisches Verhältnis zu den Grundrechten

Zur Pandemie-Bekämpfung sollen die Kompetenzen der Länder empfindlich beschnitten und eine bundeseinheitliche Corona-Notbremse festgeschrieben werden, die sich am fragwürdigen Inzidenzwert orientiert. Höchste Zeit, sich die ursprüngliche Bedeutung der Grundrechte wieder in Erinnerung zu rufen.

Kanzlerin Angela Merkel / dpa
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Gerhard Strate ist seit bald 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert in juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Foto: picture alliance

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„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“: Die Wucht dieser einfachen Worte ist eine der tragenden Säulen unseres Gemeinwesens. Der Parlamentarische Rat verankerte sie 1948 im zweiten Artikel des Grundgesetzes, um den staatlichen Zugriff auf Leib und Leben für alle Zeit zu beenden. Holocaust und Zweiter Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, Hunger und Entbehrung hatten eine ganze Generation gezeichnet. Doch wie sollten die überlebenden Opfer des Irrsinns künftig friedlich mit den Erfüllungsgehilfen des kollektiven Wahns zusammenleben können? 

Möglich machten dieses Wunder die im Grundgesetz verbrieften Menschenrechte. Sie verbannten die bösen Gespenster in die Vergangenheit und machten Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wer die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte durchlitten hatte, erfasste den Geist der Menschenrechte instinktiv richtig: als Abwehrrecht des schutzlosen Individuums gegen die Zumutungen eines übermächtigen Kollektivs. Mord und Totschlag, begangen durch eine entfesselte Staatsgewalt, sollten nie wieder möglich werden.

Diesen Zweck hat das Grundgesetz bis heute erfüllt. Unter seinem Schutz entstand aus den Ruinen der Menschheitstragödie ein blühendes Land. Die Generation der Schuldbeladenen und Leidgeprüften wich nach und nach einem neuen Menschentypus, der von kollektiven Schicksalsschlägen weitgehend verschont blieb. Die günstige wirtschaftliche Entwicklung tat ihr Übriges, um einen Zeitgeist des Anspruchsdenkens zu befördern, der eine ganz neue Lesart der Menschenrechte nach sich zog.

Eine fatale Weichenstellung

Und so wandelte sich auch das Verständnis für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit: Was früher als Abwehrrecht gegen staatliche Übergriffe dankbar geschätzt wurde, wird heute zur schnöden Versicherungspolice profanisiert, wenn es gilt, den Menschen durch aktive staatliche Maßnahmen vor Risiken zu schützen, zur Not auch vor sich selbst. Zwischen beiden Sichtweisen besteht eine erhebliche kulturelle Fallhöhe: Das mit Einführung des Grundgesetzes befreite Individuum begibt sich erneut in die Hand des übermächtigen Staates. Eine fatale Weichenstellung.

Vor dem Hintergrund einer sich wieder einmal selbst vergessenden Kultur wird verständlich, weshalb viele Menschen ihre faktische Entmündigung in Coronazeiten achselzuckend hinnehmen: Ihr selbstverständliches Anspruchsdenken auf vollkommenen Schutz durch den Staat übersieht die dadurch aufgespannten totalitären Fallstricke. Werden wir künftig auch bei Grippewellen (bis zu 25.000 Tote pro Jahr) zum Tragen einer Maske genötigt werden? Müssen Autos und Fahrräder angesichts von etwa 3.000 jährlichen Verkehrstoten komplett verboten werden, ebenso wie Alkohol und Tabak (74.000 Sterbefälle)? Was ist mit Haushaltsleitern, Küchenmessern, Handwerkzeugen und elektrischem Strom, wenn man die etwa 8.000 tödlichen Unfälle in Privathaushalten  betrachtet, die alljährlich zu beklagen sind?

Sollte der Staat tatsächlich die Vermeidung von Corona-Toten zum absoluten Staatsziel erheben, während alle anderen Sterberisiken einfach hingenommen werden? Tatsächlich bieten die verschiedenen Lebensrisiken eine unendliche Spielwiese für überambitionierte Politiker, die sie auch in Zukunft zu nutzen wissen werden.

Aus dieser üblen Falle eines risikoentwöhnten Zeitgeists kommen wir nur über die konsequente Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wieder heraus. Wie viele Suizide ist eine mehrjährige Kette von Lockdowns wert? Wie viele Firmenpleiten und private Tragödien dürfen stattfinden, ehe wir uns entscheiden, den Zwangsmaßnahmen ein Ende und endlich auf Eigenverantwortung zu setzen? Ab welchem Punkt greift das Prinzip des hinzunehmenden allgemeinen Lebensrisikos? Wie lange können kleine Kinder in einer aseptischen Welt durchhalten, umgeben von maskierten Angsthasen und traktiert mit Wattestäbchen?

Sind die gewählten Mittel geeignet?

In dieses Feld gehört auch die Frage nach der Geeignetheit der gewählten Mittel. So kommt eine im Januar 2021 in der Zeitschrift Science unter dem Titel „Transmission heterogeneties, kinetics, and controllability of SARS-CoV-2“ veröffentlichte Studie von zwölf chinesischen und vier amerikanischen Wissenschaftlern zu dem Schluss, dass das Risiko der Übertragung des Virus im Haushalt am höchsten sei und während einer Lockdown-Phase sogar steige. Schützt das gemeinsame Einschließen im Haus, womöglich auch noch im Sommer, also tatsächlich effektiv vor Corona, obwohl die Universität Boston längst herausgefunden hat, dass UV-Licht 99 Prozent aller Coronaviren innerhalb von sechs Sekunden tötet

Die Diskussion darüber, ob generelle Lockdowns und Ausgangssperren vielleicht sogar mehr schaden als nützen, gehört jetzt dringend ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit: Sind sie legitim, geeignet, erforderlich und angemessen? Im Parlament findet diese Diskussion kaum statt. Schon mit der Zustimmung zum novellierten Infektionsschutzgesetz im November 2020 hatte der Bundestag seine Souveränität in der Corona-Frage durch gesetzliche Ermächtigung an das Bundesgesundheitsministerium abgetreten.

Der nächste Streich soll alsbald folgen: Eine weitere Novellierung soll die Kompetenzen der Länder empfindlich beschneiden und eine bundeseinheitliche Corona-Notbremse festschreiben, welche sich am höchst fragwürdigen Inzidenzwert orientiert.

Zynisches Verhältnis zu Grundrechten

Ein geradezu zynisches Verhältnis zu den Grundrechten offenbart Kanzlerin Merkel, wenn sie über das Impfen spricht: „Ich glaube, wenn wir später sehr vielen Menschen ein Angebot gemacht haben können zum Impfen. Dann sagen manche Menschen, wir haben ja keine Impfpflicht, dann sagen manche Menschen, möchte ich nicht geimpft werden. Dann muss man vielleicht schon solche Unterschiede machen und sagen, okay, wer das nicht möchte, der kann vielleicht auch bestimmte Dinge nicht machen.“

Lassen wir sie damit nicht durchkommen! Es ist höchste Zeit, sich die ursprüngliche Bedeutung der Grundrechte wieder in Erinnerung zu rufen. Vor ihrem Geist zerfallen derartig totalitäre Bestrebungen zu Staub. Machen wir uns bewusst, dass jeder Text zwei Urheber hat: den Verfasser und den Rezipienten. Dies gilt auch für das Grundgesetz, das wir nicht nachlässig und geschichtsvergessen zum Rundum-Sorglos-Versicherungspaket herabwürdigen dürfen.

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