Corona-Aufarbeitung - Oder soll man es lassen?

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ thematisiert erstmals die politischen, medizinischen und vor allem journalistischen Fehler während der Coronakrise. Doch wenn das schon die oftmals geforderte Aufarbeitung ist, dann wäre es besser, wir lassen Gras über die Sache wachsen.

Wie kann man sich nach all dem Unrecht wieder näher kommen? / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Einen schöneren Namen hätten sich Gerd Bucerius, Lovis Hans Lorenz und Ewald Schmidt di Simoni gar nicht ausdenken können. Vermutlich hatten sie nur die altehrwürdige britische Tageszeitung The Times vor Augen, als sie 1946 für gerade einmal 40 Pfennig die erste Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit an die deutschen Kioske brachten. Doch was steckt da nicht noch alles Schönes drin, in dem Namen der „alten Tante aus vornehmer Familie“, die noch heute so manch einen bürgerlichen Schreibtisch ziert: „Zeit“ wie Zeitgeist zum Beispiel. Oder wie Zeitbombe. „Junge lass Dir Zeit“, pflegte mein Lateinlehrer mit leicht zynischem Unterton oft zu sagen, immer wenn ich mal wieder der Bummelletzte war, der seine Übersetzungsarbeit lange nach dem Pausengong aufs Lehrerpult legte.

Zeit ist eben eine prima Sache. Man kann oft gar nicht genug von ihr haben. Und auch Die Zeit hat daher Zeit. Viel Zeit, wie sie in ihrer aktuellen Ausgabe mal wieder trefflich unter Beweis gestellt hat. Nach genau drei Jahren Pandemie nämlich, nach Diffamierungen, Ehrabschneiderei und sozialer Bambule räkelt sich da heute eine Schlagzeile auf meiner schweren Chesterfield-Couch, die ich dort im Leben nicht vermutet hätte – also zumindest in meinem Leben nicht mehr: „Unsere Corona Fehler“ lautet da also das große „Mea Culpa!“, gedruckt in fetten schwarzen Lettern auf Nordischem Vollformat. Und weiter: „Wo waren sie zu ängstlich, wo zu leichtsinnig? Wo haben sie übertrieben, wo weggeschaut?“

Bekenntnisse aus der Redaktion

Ich wollte mir aus dem Druckerzeugnis schon meinen ersten Aluhut zusammenbasteln – vermutlich wieder nur so ein unmoralisches Leseangebot von Reiner Füllmich oder Anselm Lenz –, da  bemerkte ich erst, dass es eben die Männer und Frauen um Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo waren, die mir hier ein kleines Lese-Potpourri zum Kreuz- und Querdenken zusammengemixt hatten: „Bekenntnisse von Wissenschaftlern und Medizinern, Politikern und Journalisten“. Meine Zeit, dachte ich da noch so bei mir! Da schoben die Hamburger aus der Buceriusstraße in ihrem neu entdeckten Bekenntnisdrang auch schon die letzte Beichtformel hinterher: „Und Bekenntnisse aus unserer eigenen Redaktion“.

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen da geht, aber ich bemerke bei zu viel Selbstbezichtigungsdrang allzu schnell eine Form von Fremdscham über Gesicht und Rücken kribbeln. „Komm, lass gut sein!", denk ich dann vielleicht oft zu früh, nehme selbst dem zotteligsten Galgenvogel noch die Faust von der Brust und schleife ihn mit vereinten Kräften aus dem Staub heraus. Confiteor! Ich gestehe, ich bin zu schnell im Vergeben, Vergessen und Schwammdrübermachen!

Andererseits: Ich persönlich hätte auch schon 2016 die Beichte von eben jenem Giovanni di Lorenzo nicht gebraucht, die er damals im Rampenlicht des Dresdner Schauspielhauses abgelegt hatte. Erinnern Sie sich? Bezugnehmend auf die, sagen wir einmal, zuweilen doch sehr lückenhafte Berichterstattung zahlreicher deutscher Medien gegenüber der damaligen Flüchtlingspolitik und der Verunglimpfung ihrer bürgerlichen Kritiker, meinte di Lorenzo damals doch glatt, dass „wir Journalisten“ uns fragen müssten, „ob die Kritik an unserer Arbeit in Teilen nicht berechtigt“ sei.

Die Sühne des Chefredakteurs

Natürlich hatte der Mann 2016 schon Recht. Aber wie sagte mein Lateinlehrer doch so schön: Tempus fugit! Wer wüsste das besser als der Chefredakteur einer Zeitung mit Namen Zeit. An dieser Stelle – wir sind ja schließlich gerade beim großen Reinemachen – bitte auch ich um etwas Vergebung. Ein Schenkelklopfer, aber er musste wohl sein. Was bringt schließlich die ganze Sündenlitanei, wenn es hernach wie in den Straßen Sodoms weiterhin nur drunter und drüber geht. „Meine Damen und Herren, ich sage es nicht gerne, aber: Der journalistische Ruf als unbeteiligter Beobachter steht bei Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, auf dem Spiel.“ Giovanni di Lorenzo hat das eben schon 2016 in Dresden erkannt. 2023, in eben dieser aktuellen Ausgabe seiner Hamburger Wochenzeitung, hätte er es vor dem Hintergrund der Corona-Berichterstattung doch glatt noch einmal wiederholen können.

Doch keine Sorge: Wo einst der Chef noch selber sühnte, lässt er diesmal seine Redakteure ran: Jakob Simmank zum Beispiel, Leiter des Zeit-Ressorts Gesundheit: Der hatte sich, so bekennt er heute, doch glatt in der Einschätzung der chinesischen Zero-Covid-Strategie geirrt: „Manche der Bilder [aus China, d. Verf.] mögen Propaganda gewesen sein, viele der Maßnahmen nicht mit unserem Verständnis einer freiheitlichen Grundordnung vereinbar. Und doch setzte sich bei mir der Eindruck fest, dass China diese Pandemie sehr erfolgreich meisterte. Anfang 2023 ist mir klar, dass das nicht stimmt.“ Mehr Diktatur wagen? Mea Culpa!

Oder Andreas Sentker, Co-Leiter des Ressorts Wissen: „Pest, Cholera, Spanische Grippe – ich hätte es nicht vergessen dürfen: Pandemien sind ungerecht. Sie treffen vor allem sozial Benachteiligte“. Und weil eben auch diese sozial Benachteiligten aus der Sicht eines bürgerlichen Zeitungsredakteurs aus dem Treppenviertel in Blankenese am Ende wohl auch nur Menschen sind, bleibt für Sentker unterm Strich eine Art Herz-Jesu-Binse zurück: „Auch wenn erst einmal alle – ich als Biologe besonders – gebannt auf das Virus starrten, wir dürfen die Menschen nicht aus dem Blick verlieren.“ Der virologische Blick? Mea Culpa!

Ein Blatt für Alle und Jeden

So könnte man es weiter treiben. Sünde um Sünde. Ressort um Ressort. Doch wir leben nicht im Jahr 1946. Aus den Anfangs 25.000 Zeit-Exemplaren, ist längst das Blatt für Alle und Jeden geworden. Und wer bin ich, dass ich den Finger erhebe? So muss dann halt jetzt jeder mal ran ans große Eingeständnis – vom Ministerpräsidenten bis zur Virologin.

An der Buceriusstraße ist Flaschendrehen, und keiner bleibt jetzt außen vor. Jetzt gilt`s: Wahrheit oder Pflicht! Auch für eine erlesene Schar von Gastautoren. Armin Laschet (CDU) zum Beispiel, am Beginn der Corona-Krise noch Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, schreibt jetzt, da er kein Amt mehr innehat, dass wir es mit den Corona-Schutzverordnungen „völlig überzogen“ hätten. „Die Methode, die wir da angewandt haben, halte ich für hochgefährlich“.

Manuela Schwesig (SPD) wiederum, Laschets Länderkollegin in Mecklenburg-Vorpommern, bereut die Schließung von Kinderspielplätzen und das Besuchsverbot in den Pflegeheimen. Und auch Bodo Ramelow (Die Linke) hat wohl irgendwann beim Irrlichtern von Lockdown zu Lockdown sein Herz für Kinder vergrößern können: „Wir hätten die Schulen und Kindergärten während der zweiten Welle offen halten müssen“, meint er heute, und weiß sich mit dieser Einschätzung im Einklang mit dem scheidenden RKI-Chef Lothar Wieler. Der durfte den bürgerlichen Bekenntnisreigen zuvor mit einem langen Interview eröffnen.

Also kurz und gut: Tut uns leid, das mit den überbordenden Maßnahmen! Und wegen der Grundrechte: Ey, echt sorry! Die Zeit zupft dieser Tage den Zeitgeist zurecht. Und was gestern noch Schwurbel hieß, ist fortan der „hot shit“, zusammengedacht in der bürgerlichen Mitte.

Wir werden einander viel, sehr viel zu vergeben haben. Sie erinnern sich? Und klar, die großen Dinge sind auch schnell vom Tisch: die Schulschließungen, die Ausgehverbote, die Reisebeschränkungen. Abstrakte Worte sind schnell vergeben. Ein Satz in der Zeitung, und dann ist auch gut. Aber wer vergibt eigentlich die Kleinigkeiten? Die Angst, weil der Jugendtreff geschlossen hatte, der Jähzorn daheim aber niemals zumachte? Die Schmerzen im Knie, den Nebel im Kopf? Nach dem kleinen Piks war das ganz plötzlich da. Wer vergibt die Scham, weil man die eigene Mutter alleine sterben lassen musste? Und wer vergibt eigentlich, dass ich auch bei den richtig großen Schweinereien immer wieder zu schnell vergebe? 

Das ist nicht Pathos, das ist Realität. Drei Jahre Deutschland haben Narben geschlagen. Ja, Vergebung wäre da eine schöne Geste. Aufarbeitung ein gutes Wort. Das nämlich bedeutete mehr als „Tausendmal untröstlich, da haben wir uns halt mal geirrt“. Sonst könnte man es diesmal wirklich gleich lassen mit den salbungsvollen Worten in der Zeitung. 2016 wollte man die Giovanni di Lorenzo noch durchgehen lassen. Die Zeit aber heilt diesmal nicht alle Wunden.

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