Christian Ude - „Macht die Politik nicht schlecht, macht sie besser“

Christian Ude, langjähriger, sozialdemokratischer Oberbürgermeister in München, prangert in seinem Buch alles an: Angela Merkel, Martin Schulz, die Migrationspolitik, den Diskurs in Deutschland – und das alles, um die SPD zu retten. Wie passt das zusammen? Ein Interview

„Wahlenthaltungen empfinde ich als Niederlage der Demokratie“ / picture alliance
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Autoreninfo

Chiara Thies ist freie Journalistin und Vorsitzende bei next media makers.

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Herr Ude, Sie haben Ihr Buch „Die Alternative – Macht endlich Politik!“ genannt. Inwieweit haben Sie denn als Politiker eine Alternative geboten?
Mir geht es vor allem um den politischen Diskurs, der in den vergangenen ein, zwei Jahrzehnten auf Bundesebene bei den großen Themen sehr stark eingeschlafen ist. Außerdem schließe ich an die Tradition an, die die Links-Intellektuellen in den sechziger Jahren unter Leitung von Martin Walser und Hans Werner Richter Bücher unter dem Titel „Die Alternative“ vorgelegt haben. In meiner persönlichen Arbeit habe ich mich immer bemüht, eine rot-grüne Alternative zur konservativen Politik in Bayern zu bieten.

Nun schreiben Sie in Ihrem Buch auch „Macht die Politik nicht schlecht, sondern besser!“ Wie soll das gehen?
Also „Macht Politik nicht schlecht“ ist schon mal mein erstes Anliegen, weil es zur Zeit tatsächlich modern ist, Politik generell in die Pfanne zu hauen. Sogar stolz auf eine Wahlenthaltung zu sein. Das empfinde ich als Niederlage der Demokratie. Die Nicht-Wähler überlassen es ihren politischen Gegnern, Deutschlands politisches Schicksal zu bestimmen. Politik soll verbessert werden, indem der Bevölkerung wieder Alternativen und Wahlmöglichkeiten geboten werden. Man soll nicht nur im Einheitsbrei herumrühren. Zu keinem der großen Themen, ob Bundeswehreinsätze im Ausland, ob Bankenrettung, ob Griechenlandhilfe gab es parlamentarische Sternstunden oder Wahlkämpfe mit kontroversen Angeboten. Das ist Wasser auf die Mühlen der Radikalen, denen man aber das Wasser abgraben sollte.

Also richten Sie Ihre Aufforderung an Politiker und nicht an die Wahlbevölkerung?
Selbstverständlich auch auf die Wahlbevölkerung. Im Gegenteil, ich bin dagegen Politiker zu dämonisieren. Ich nehme auch die Bürger in die Pflicht, indem ich sage, sie sollen sich interessieren, Anteil nehmen, ihre eigenen Interessen wahrnehmen und eben nicht nur motzen.

Spielen Sie mit den Begriffen „Einheitsbrei“ und angeblicher „Alternativlosigkeit“ auf Merkels Wahl-Strategie an?
Ja, natürlich sind sowohl die Alternativlosigkeit wie die asymmetrische Mobilisierung zwei Formen, die rein parteipolitisch clever sein können – das hat Merkel ja oft genug bewiesen –, aber dieser Demokratie nicht gut tun. Denn die Demokratie lebt von der Mobilisierung der Demokraten und zwar auf beiden Seiten eines Konflikts und nicht von der Einschläferung.

Was halten Sie vor diesem Hintergrund von Martin Schulz Vorwurf, Angela Merkel hätte damit einen „Anschlag auf die Demokratie“ begangen?
In der Sache stimme ich überein. Aber ich hätte nicht von einem Anschlag gesprochen. Da stellen sich in Zeiten des Terrorismus andere Assoziationen ein.

Sie schreiben auch, dass Sie vom Wahlkampfslogan „Mehr Gerechtigkeit“ irritiert sind.
Also ich bin von dem Slogan und dem Ziel keineswegs irritiert. Die SPD war in den vergangen zwei Jahrzehnten, 15 Jahre lang Regierungspartei und sieben Jahre sogar größerer Koalitionspartner. Sie soll sich nicht erhoffen, dass eine Schilderung der entsetzlichen sozialen Verhältnisse – die  ich gar nicht so schlimm sehe – automatisch Wasser auf die eigenen Mühlen sei. Dann fragen die Leute natürlich nach, warum die SPD bei dieser Darstellung bisher so wenig dagegen getan hat. Dann ist man mittendrin in einer unfruchtbaren Debatte. Es wäre besser, konkrete Projekte zu präsentieren: das Bodenrecht, die Transaktionssteuer, das Mietrecht. Das ist ergebnisreicher, als eine Lage zu beklagen, an der man selbst nicht unbeteiligt ist.

Die Integration der Migranten gehört gegenwärtig auch zu solchen Projekten. Sie gehen in Ihrem Buch auch auf die verschiedenen Probleme der ersten, zweiten und dritten Generation der Migranten und deren Verteilungskämpfe ein. Hätte die deutsche Bevölkerung gegenüber solchen Problemen stärker sensibilisiert werden müssen?
Also die dritte Generation ist ein Problem, das gebe ich offen zu. Als wir in den sechziger und siebziger Jahren mit der Integration begonnen haben, haben wir das  nicht realistisch vorhergesehen. Die erste Generation war in einer wirtschaftsstarken Stadt wie München kein Problem, es haben alle einen Arbeitsplatz gefunden und sich schnell integriert. Die zweite Generation war noch besser integriert, weil sie schon in Deutschland geboren wurde und zur Schule ging und weniger Sprachprobleme hatte als die Generation der Einwanderer. Das Überraschende ist jetzt, dass die dritte Generation plötzlich anfängt, nach der kulturellen Identifikation zu suchen und die auch oft im Nationalismus oder religiösem Fanatismus findet. Sie haben sich viel fundamentaler mit der Aufnahmegesellschaft auseinandergesetzt, als es die zwei vorangegangen Generationen getan haben. Das extremste Beispiel sind dann Mädchen, die in Deutschland geboren wurden, aber sich im Nahen Osten dem IS anschließen. Die Fälle gab es noch viel häufiger bei jungen Männern. Da müssen wir die Ernsthaftigkeit der Probleme neu definieren – ohne Vorwürfe an andere. Aber als Appell, das Problem nicht zu verniedlichen oder für ein kunterbuntes Vergnügen zu halten.

Sie gehen auch noch darauf ein, dass die Grenzschließungen notwendig waren, um Herr über die Flüchtlingskrise zu werden. Da befinden Sie sich politisch schon bei der CSU. Wie viel SPD steckt überhaupt noch in Ihnen?
Ich bin und bleibe ein Sozialdemokrat, der zum Asylrecht und zur Flüchtlingskonvention und allen Abschiebungshindernissen steht und die Integration aktiv unterstützt. Aber ich gebe auch zu, dass wir von der Schließung der Balkanroute profitieren, weil sie die Flüchtlingszahlen enorm reduziert hat. Die Befürworter offener Grenzen sagen anhand dieser Zahlen, dass alles gar nicht so schlimm sei. Diese Verharmlosung ist unehrlich. Die Weigerung mancher EU-Länder, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen, ist inakzeptabel, deshalb würde ich den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nie verteidigen – aber dass die Schließung der Balkan-Route ursächlich dafür war, dass die Probleme uns nicht überrollt haben, muss man einfach zugeben. Und das sollte doch allen Freunden offener Grenzen zu denken geben.

 

 

Christian Ude: Die Alternative oder: Macht endlich Politik!. Knaus; 16,99 Euro; 240 Seiten

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