Altmaiers Aufruf zum AfD-Boykott - Wo bleibt der Rüffel des Präsidenten?

Kisslers Konter: Der Chef des Kanzleramts, Peter Altmaier, rät dazu, lieber nicht zu wählen als Parteien, die er „nicht staatstragend“ findet. Das ist ein Skandal, eine Abkehr vom demokratischen Prinzip, doch ausgerechnet der Bundespräsident sieht offenbar keinen Handlungsbedarf

Peter Altmaiers Aufruf, bestimmte Parteien nicht zu wählen, stört Bundespräsident Steinmeier scheinbar nicht / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wird es auch vor dieser Bundestagswahl einen Wahlaufruf des Bundespräsidenten geben? Joachim Gauck ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen. Lässt Frank-Walter Steinmeier sie verstreichen? Im Terminplan ist ein solcher Appell nicht vorgesehen. Vorgänger Gauck mag man vieles vorwerfen, manches zu Unrecht. Doch an der zentralen Bedeutung der Stimmabgabe für eine funktionierende Demokratie rüttelte er nie. Als ehemaliger DDR-Bürger war er tief, war er leidenschaftlich durchdrungen von der Überzeugung, welch kostbares Geschenk eine freie, gleiche, geheime Wahl sei. So erklärte er im September 2013, unmittelbar vor den Wahlen zum 18. Deutschen Bundestag: „Unsere Demokratie lebt davon, dass wir eine Stimme haben und diese Stimme nutzen. (…) Indem wir wählen, entscheiden wir uns für eine lebendige Demokratie.“

Nur Sorgen um die Sozialdemokratie

Das ist lange her. Wer heute im Internet nach einem Wahlaufruf Steinmeiers sucht, wird auf ein 22-sekündiges Video aus dem Jahr 2012 verwiesen. „Frank-Walter Steinmeier, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion“, erklärt darin, man möge doch die SPD-Politikerin Hannelore Kraft zur nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin wählen. Die sei nämlich „‘ne tolle Frau, nicht nur ‘ne tolle Politikerin“. Wer nach den Sorgen Steinmeiers um die Demokratie sucht, findet eine Rede vom 19. September dieses Jahres auf Schloss Bellevue. Auch da wurde ein Bundespräsident leidenschaftlich, war es ihm sehr ernst mit dem, was er sagte: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger, müssen uns selbstbewusst um die Demokratie kümmern – und auch wieder lernen, für sie zu streiten.“

Doch der Verdacht blieb bestehen, es sei noch immer eine sozialdemokratisch grundierte, großkoalitionär abgefederte Leidenschaft, die aus Steinmeier spricht. Die Mahnung, „manche Gesellschaften“ erschienen „wie infiziert vom Fieber des Autoritären“, galt ausdrücklich nicht der deutschen Gesellschaft.

Altmaiers seltsames Demokratieverständnis

Kein Wort verlor Steinmeier zu einer Gefahr, die der Demokratie eben auch droht: der Aushöhlung durch eine saturierte Regierungselite in ihrer Echokammer. Am selben Tag, da Steinmeier ins Schloss Bellevue lud, erklärte ein führendes Mitglied des Kabinetts, Kanzleramtsminister Peter Altmaier von der CDU: Eine Wahlenthaltung sei besser als eine Stimme für die AfD. Er, Altmaier, plädiere dafür, „Parteien zu wählen, die staatstragend sind“; AfD und Linkspartei bekommen von Altmaier das Gütesiegel nicht verliehen.

Spielte Steinmeier auf diesen bedenklichen Vorfall an? Er legte abends dar: „Gerade wer zornig und anderer Meinung ist, sollte selbst das Wort ergreifen, statt andere zum Schweigen bringen zu wollen. (…) Es ist ein guter Teil der politischen Kultur in Deutschland, dass wir, allen Meinungsunterschieden und Interessenkonflikten zum Trotz, die Berechtigung des politischen Wettbewerbs nicht infrage gestellt haben.“ Vermutlich war nicht der zornige Altmaier gemeint, der mit seiner skandalösen Äußerung am Frühstückstisch der Bild-Zeitung auf einen Unfug einen größeren setzte: Ein demokratisch legitimierter Vertreter der Exekutive stufte den Rang der Demokratie herab zum Machtverteilungsprozess im geschlossenen Klub der Rechtgesinnten. Und er definierte diese richtige, diese einzig erwünschte Gesinnung durch das Kriterium des Staatstragenden.

Parteien wirken also in Altmaiers Sicht nicht, wie es im Grundgesetz heißt, an der politischen Willensbildung mit. Nein, Parteien sollen dem Staat dienen, ihn stützen und tragen und Staatsbediensteten wie Altmaier beim täglichen Handeln nicht im Weg stehen. Von dieser Argumentation führt eine abschüssige Bahn zu Akklamation und Einheitsliste.

Was Steinmeier versäumte, tat nun Innenminister Thomas de Maizière, der klarstellte: „Nein, jeder sollte von seinem Wahlrecht Gebrauch machen und zur Wahl gehen.“ Auch von SPD- und AfD-Politikern kam Kritik an Altmaiers Worten.

Steinmeier lässt Altmaier gewähren

Man plaudert gerne des Morgens, wenn es Wahlkampf ist und der Tisch gedeckt. Dennoch waren die Worte von Merkels rechter Hand ein Affront, ein Tabubruch, ein Skandal. Es hätte der Grundsatzrede von Steinmeier gut gestanden, hätte er dieses Ansinnen in klaren Worten zurückgewiesen als das, was es ist: eine Abkehr vom demokratischen Prinzip.

Steinmeier hat Recht, wenn er erklärt: „Tomaten und Trillerpfeifen sind im demokratischen Diskurs kein Mittel zu höherer Erkenntnis und Ohrenschmerzen kein Ausweis einer geglückten Kontroverse.“ Doch im selben Politikbetrieb, in dem Pöbeleien durch AfD-Sympathisanten verurteilt werden, legt der Kanzleramtschef die Axt an die Wurzel unserer Republik und nährt das böse Klischee, letztlich fühle sich die Regierung dem eigenen Wohl verpflichtet. Ein Satz von Steinmeier wider großkoalitionäre Begehrlichkeit und machtpolitische Dreistigkeit hätte dieses Klischee entlarven können. So blieb es im Raum.

Wie klar klang doch Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede: „Demokratie ist kein politisches Versandhaus. Demokratie ist Mitgestaltung am eigenen Schicksal.“ Daran gilt es unbedingt zu erinnern – und am Sonntag wählen zu gehen. Frei und gleich und geheim. 42 Parteien werben um die Stimmen. Wir nennen es Demokratie.

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