Bundespräsidentenwahl - Die totale Demütigung

Kisslers Konter: Frank-Walter Steinmeier wird neuer Bundespräsident. Schlechter könnte das Wahljahr für CDU und CSU nicht beginnen. Die Kür am Sonntag ist Demütigung und Selbstverzwergung zugleich

Steinmeiers Wahl zum Bundespräsidenten ist Merkels Zeugnis der Planlosigkeit / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Die Wahl des Bundespräsidenten gilt als Hochamt der Demokratie. Ihr Ausgang ist dennoch keine Überraschung. Noch immer hat sich der zuvor von den Mehrheitsparteien ausgehandelte Kandidat durchgesetzt. Spannend ist höchstens die Frage, wie vieler Durchgänge es bedarf, ehe die Bundesversammlung ihr Votum gesprochen haben wird.

Am kommenden Sonntag ist es soweit. Frank-Walter Steinmeier wird die Nachfolge Joachim Gaucks antreten. Staatsoberhaupt wird nach 13 Jahren wieder und zum dritten Mal überhaupt ein Sozialdemokrat sein. Das europäische Superwahljahr 2017 beginnt mit der größtmöglichen Demütigung für CDU und CSU.

Ohnmacht der Union

Demütigend ist nicht die Tatsache. Wandel gehört zum Wesen der Demokratie und wird nur im obrigkeitsfixierten Deutschland als Sensation gehandelt. Demütigend sind der Zeitpunkt und das Procedere, demütigend ist die Ohnmacht von CDU und CSU. Die Wahl markiert den vorläufigen Höhepunkt einer epochalen Selbstverzwergung. Die meisten der 539 Wahlleute, die die Union aufzubieten hat, werden brav und tapfer den ehemaligen Gegenkandidaten von Angela Merkel im Rennen um das Kanzleramt wählen. Sie folgen damit einem großkoalitionären Scheinfrieden, der der Kanzlerin eine Atempause verschaffen sollte und jetzt den Machtverlust der Parteivorsitzenden schneidend vor Augen führt: Die Merkel-CDU hat keine Gestaltungsmöglichkeit jenseits von Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz. Das ist der Preis einer atemberaubenden inhaltlichen Entkernung.

Gewiss, der Zeitpunkt liegt außerhalb des Kalkulablen. Doch dass Steinmeiers Sieg in eine Phase sensationell aufwärtsgerichteter Umfrageresultate für die SPD und für Merkel-Herausforderer Schulz fällt, ist ein denkbar schlechtes Omen für die Union. Der aus Brüssel importierte Eurokrat profitiert weit mehr vom Überdruss an Merkel als von eigener Stärke. Schulz ist nicht unverbraucht, doch Schulz ist nicht Merkel, und Schulz saß nicht am Kabinettstisch, als die Grenzen geöffnet und die Rettungsgelder beschlossen wurden: Das genügt. Und das allein zeigt, wie wenig die CDU als Partei mit eigenständigem Markenkern wahrgenommen wird. Sie ist die Merkel-Partei. Wer Merkel schätzt, wählt CDU, nach weiteren Gründen wird nicht gefragt, weitere Antworten sind nicht im Angebot. Und immer weniger Menschen schätzen Merkel.

Beginn der Nach-Merkel-Ära

Das Procedere, das zur Inthronisation Steinmeiers führen wird, unglücklich zu nennen, wäre untertrieben. SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel setzte sich im Machtpoker gegen eine Kanzlerin durch, die es versäumte, beizeiten erfolgsversprechende Kandidaten zu gewinnen, sei es aus Wurstigkeit, sei es aus Pech. Gabriel obsiegte über eine Kohorte der Verzagten.

Niemand aus der CDU, niemand aus der CSU war Manns (oder Frau) genug, sich zur Wahl zu stellen und ein Scheitern zu riskieren. Auch dieser Umstand belegt aufs Drastischste: Parteien, die mit dem Wettstreit fremdeln, Gehorsam an die Stelle des Wettbewerbs setzen und Machtversorgung der Überzeugungskraft vorziehen, verlieren den Wettstreit und die Macht und ernten einen Ungehorsam, der epidemisch wird. Bald wird es keiner mehr gewesen sein wollen.

Diese Selbstverzwergung, Selbstdemontage aus eigenem Antrieb und Kalkül wird der Union noch lange nachhängen. An diesem demütigenden Sonntag beginnt faktisch die Ära nach Merkel. Die Parteivorsitzende mag sich noch eine Weile im Amt halten, vielleicht sogar als Kanzlerin über den September hinaus; es wäre freilich die Mutter aller Pyrrhussiege. Nicht wenige in der Union hoffen, dieser Kelch möge an ihnen vorbeiziehen. Schon jetzt war die Wiederwahl Merkels zur Parteivorsitzenden im Dezember vergangenen Jahres der eine Sieg zu viel. Ein letztes Mal sprach sich der bedingte Wille zur Macht aus. Die Ohnmacht dieses Sonntags ist ein Echo. Weitere werden folgen, und der Wähler macht das Licht aus.

Anzeige