Blitz-Analyse zur Bundestagswahl - Das Ende der Lager

Die vorläufigen Ergebnisse der Bundestagswahl zeigen: Es gibt keine strukturelle linke Mehrheit mehr in der Bundesrepublik. Aber auch das bürgerliche Lager ist zerbrochen. Es drohen politisch instabile Zeiten in Deutschland – und das ist das Letzte, was Europa und die Welt jetzt brauchen

Angela Merkel und die CDU haben zwar die Wahl gewonnen, mussten aber herbe Verluste hinnehmen / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Und jetzt? Das ist die Frage der Stunde angesichts eines voraussichtlichen Wahlergebnisses, mit dem gerechnet werden musste. In früheren Zeiten, als noch einigermaßen trennscharf unterschieden werden konnte zwischen einem „rechten“ und einem „linken“ Lager, wäre die Sache klar: Die strukturelle linke Mehrheit, wie sie in den vergangenen vier Jahren existierte, ist weg: SPD (nach Hochrechnungen etwa 20 Prozent), Grüne (etwas über 9 Prozent) und die Linke (um die 9 Prozent) kommen zusammen nur noch auf knapp unter 40 Prozent und verlieren gegenüber dem Bundestagswahlergebnis von 2013 insgesamt rund drei bis vier Punkte. Aber in der neuen Zeitrechnung, die heute mit dem Einzug der AfD (um die 13 Prozent) begonnen hat, bedeutet diese Rechnung gar nichts mehr. Denn die sogenannten Rechtspopulisten stehen als Koalitionspartner für die Union außen vor. Realistisch kommen nur zwei Optionen in Frage: Eine Fortsetzung der Großen Koalition oder Schwarz-Gelb-Grün, also „Jamaika“.

SPD muss in die Opposition

Man muss nicht zum hundertsten Mal sämtliche demokratietheoretischen Argumente anführen, um zu erkennen, dass Schwarz-Rot die schlechtere Option wäre. Große Koalitionen sind Gift für den Pluralismus und fördern die Extreme an den politischen Rändern. Das heutige Ergebnis bestätigt diesen Befund sehr drastisch, ein „Weiter so!“ würde diese Entwicklung noch fortschreiben. Natürlich wäre es für die amtierende Kanzlerin der bequemste Weg, aber die Sozialdemokraten werden sich darauf nicht einlassen können. Nicht in dem Zustand, in dem sie jetzt sind. Das wäre allenfalls möglich gewesen, wenn sie ein Ergebnis geholt hätten, das die 25,7 Prozent von vor vier Jahren nicht unterschreitet. Aber knapp über 20 Prozent, die die SPD nach derzeitigen Hochrechnungen zu erwarten hat, sprechen eine andere Sprache. Und die klingt nach Opposition.

Also Jamaika? Diese Konstellation mag zwar vom politischen Feuilleton als zweitbeste Variante nach Schwarz-Grün goutiert werden. Doch der politische Praxistext ist damit eben noch lange nicht bestanden. Die Union könnte gewiss mit beiden – vielleicht sogar irgendwie mit beiden gleichzeitig. Aber wie insbesondere der linke Flügel der Grünen mit den deutlich auf Krawall und schon aus reinem Selbstschutz auf Kompromisslosigkeit gebürsteten Lindner-Liberalen zusammenfinden sollen, das ist eine Frage, die nicht nur Cem Özdemir beantworten muss. Sondern auch Jürgen Trittin. Und der hat nach der Bundestagswahl 2013 schon Schwarz-Grün verhindert. Kaum vorstellbar, dass es ihm die FDP als dritter im Bunde jetzt leichter macht, eine gemeinsame Regierung in Erwägung zu ziehen. Zumal die Grünen der kleinste Bündnispartner wären. Es müssten von beiden Parteien also schon sehr viele im Wahlkampf aufgestellte Hürden abmontiert werden – von der Europa- über die Steuer- bis hin zur Verkehrs- und Migrationspolitik –, damit Jamaika keine ferne Karibikinsel bleibt.

Folgen von Merkels Flüchtlingspolitik

Es drohen demnach politisch instabile Zeiten. Und das ist so ungefähr das Letzte, was angesichts der Lage in der Welt ganz allgemein und in Europa im Besonderen jetzt hilfreich ist. Sollten sich die Hochrechnungen bestätigen, käme die Union unter Bundeskanzlerin Merkel auf knapp 33 Prozent – ein historisch schlechtes Ergebnis, zumal für eine Partei, die ihrem Selbstverständnis nach ein Stabilitätsanker in der durcheinandergewirbelten europäischen Parteienlandschaft ist. Zwei Jahre nach der sogenannten Grenzöffnung tritt ganz offen zutage, was die planlose und selbstherrliche Flüchtlingspolitik bei der traditionellen Wählerschaft der CDU angerichtet hat. Natürlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle – von der Eurorettungspolitik bis zur holterdipolter verkündeten Freigabe der „Ehe für alle“. Aber Merkels Agieren in Sachen Migration und Flüchtlinge ist die eigentliche Ursache für das Auseinanderbrechen des „bürgerlichen Lagers“ in einen moderaten und einen radikalen Teil.

Mit der AfD drohen Eskalationen

Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag, und das gleich in dieser Stärke, beginnt tatsächlich ein neues Kapitel im deutschen Nachkriegsparlamentarismus. Nicht jeder, der diese Partei im Parlament vertreten wird, ist ein Extremist oder gar Neonazi. Aber der Anteil jener, die „das System“ verachten und am liebsten ganz abschaffen würden, der Anteil an Geschichtsrevisionisten, glühenden Nationalisten oder offenen Fremdenfeinden ist eben ein wesentlicher Kern der AfD des Jahres 2017. Es drohen Eskalationen im Bundestag; der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat die „Alternative für Deutschland“ übrigens am Freitag während seiner Abschlusskundgebung explizit als „unsere Feinde“ tituliert. Und damit Öl ins Feuer gegossen, bevor es im Berliner Parlament überhaupt entzündet war.

Die SPD bleibt in ihrer Verliererrolle, der Gerechtigkeitswahlkampf hat nicht gezündet. Die Sozialdemokratie wird sich neu erfinden müssen, wenn sie nicht bald als ehrenwerte Partei des 20. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher eingehen will. Vor allem aber wird sie die Kluft zwischen ihren Funktionseliten und ihrer Kernklientel schließen müssen. Auch da hilft womöglich die Erkenntnis, dass ein Sozialstaat nur dann Bestand haben kann, wenn der Zuzug in die entsprechenden Sicherungssysteme klar definiert und kontrolliert wird. Die FDP ist wieder da, was durchaus auch an deren Parteivorsitzendem Christian Lindner liegt. Für die Liberalen besteht die größte Herausforderung jetzt darin, nicht in Größenwahn zu verfallen und ihr Primat der Realpolitik auch und gerade im Umgang mit den anderen Parteien hochzuhalten. Mit One-Man-Shows ist da nichts gewonnen.

Die Grünen und die Linkspartei finden sich nach den ersten Prognosen im einstelligen Prozentbereich wieder. Vielleicht sollte man sagen: immerhin. Denn von echter Opposition konnte insbesondere bei den Grünen während der vergangenen vier Jahre keine Rede sein. Wenn es trotz aller echten oder behaupteten Unvereinbarkeiten zwischen SPD, Grünen und Linken eine Klammer gibt, dann ist es die Zugehörigkeit zum „linken Lager“. Und zwar deutlich stärker als im umgekehrten Fall die Klammer zwischen Union, FDP und AfD in einem „rechten Lager“ sein könnte. Wer also unbedingt die aus der Zeit gefallene Lagertheorie bemühen will, wird heute feststellen müssen: Es haben beide Lager verloren. Die einen an Zustimmung, die anderen an politischer Gestaltungsmöglichkeit. Gut ist das nicht.

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