„Bild“-Zeitung gegen Christian Drosten - „Er hat dem Stier das rote Tuch vorgehalten“

Die „Bild“ hat sich zum Sprachrohr der Menschen gemacht, die eine Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen fordern. In einer Titelgeschichte warf die Zeitung dem Virologen Christian Drosten jetzt vor, die Schulen seien wegen einer „falschen Coronastudie“ dicht. Doch der Schuss ging nach hinten los.

Keine Angst vor der „Bild“: Christian Drosten / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

Es war eine Schlagzeile, die ins Auge sticht. „Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht.“ Daneben stand in kleinen Lettern ein Satz, ein Cliffhanger, der zur „Enthüllungsgeschichte“ auf Seite zwei führte: „Kollegen von Star-Virologe Prof. Drosten räumen Fehler ein.“ Ein Scoop, von dem der Boulevard in Krisenzeiten nur träumen kann?  

Nein, es war ein klassisches Eigentor, das die Bild da geschossen hatte. Die Zeitung war kaum gedruckt, da hatten sich die zitierten Kollegen schon von der Berichterstattung distanziert. „Überspitzt“ sei die und völlig „reißerisch“. Typisch Bild eben. Und noch am selben Tag ploppte auf Twitter ein Hashtag auf, unter dem sich Spott und Häme über Deutschlands größtes Boulevardblatt ergoss: #Bildboykott. Aber was war da eigentlich passiert? 

„Die Studie ist nicht hieb- und stichfest“

Anruf bei Leonhard Held. Der Schweizer Professor vom Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Uni Zürich ist einer der Forscher, den Bild als Kronzeugen für die angebliche „Falschheit“ der Studie zitiert. Im Auftrag des Schweizer Bundesrates hatte Held die Zahlen seines Berliner Kollegen kritisch unter die Lupe genommen. Drosten hatte zwischen Januar und April 3.712 Proben von auf Corona getesteten Patienten ausgewertet – darunter waren auch 37 Kinder im Kindergartenalter, 16 Grundschüler und 74 Jugendliche. 

Er kommt zu dem Ergebnis, dass auch Kinder und Jugendliche bei einer Infektion mit SARS-CoV2 im Rachen genauso viele Viren entwickeln könnten wie Erwachsene. Die Studie sei nicht „hieb- und stichfest“, sagt Leonhard Held gegenüber Cicero. Dazu stehe er. Interviewt worden sei er nicht von der Bild. Gleichwohl zitiert ihn die Zeitung mit den Worten, Drostens Studie „leidet unter einer kleinen Stichprobengröße von Kindern und Jugendlichen.“

Die Wahrheit entsteht im Diskurs

Andere Kollegen gehen härter mit der Studie ins Gericht. Einer, der Wirtschaftsprofessor Jörg Stoye, kommt zu dem Schluss: „Es gibt viele gute Argumente gegen eine schnelle Wiedereröffnung der Schulen, aber die Charité-Studie trägt nichts dazu bei.“ So steht es in einem Fachaufsatz, den Stoye auf der Plattform arxiv.org veröffentlicht hat. Es ist das typische Procedere, das wissenschaftliche Studien begleitet. Ein Forscher – in diesem Fall der Virologe Drosten – veröffentlicht seine Ergebnisse als „Preprint“ auf der Homepage seines Institutes. 

Andere Wissenschaftler lesen sich das durch, sie rechnen nach, sie zeigen Schwachstellen auf, sie machen ihre Kritik öffentlich. Der Verfasser der Studie kann dann gegebenenfalls noch nachbessern, bevor er die Endfassung in einem Fachjournal veröffentlicht. Die Suche nach der Wahrheit ist das Ergebnis eines wissenschaftlichen Diskurses. Normalerweise. 

Kampf um die Deutungshoheit und um Klickzahlen  

In diesem Fall hat die Bild die Fachaufsätze zu Drostens Studie gelesen. Und die Wahrheit der Zeitung ist um einiges einfacher als das, was Statistiker, Mathematiker oder Epidemiologen nach ihren Recherchen zu Tage gefördert haben. Ihr geht es nicht um wissenschaftlich begründete Kritik. Ihr geht es um die Bewertung. Die Zeitung hat sich zum Sprachrohr der Menschen gemacht, die die Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Krise kritisieren – und damit auch den Mann, der die Bundesregierung berät: Christian Drosten. Der Streit um den richtigen Weg aus der Krise ist längst zum Glaubenskrieg geworden. „Öffner“ und „Mahner“ stehen einander unversöhnlich gegenüber. 

Und die Bild kämpft an vorderster Front – nicht nur um die Deutungshoheit, sondern auch um Klickzahlen. Mal zitiert sie „Deutschlands klügste Corona-Skeptiker“ – und verkauft als solche auch die ehemalige Chefredakteurin der Bunte, Patricia Riekel. Mal rührt sie die Werbetrommel für die Studie des Bonner Virologen Hendrik Streeck

Der kommt nach stichprobenartigen Untersuchungen von 919 Menschen in 405 Haushalten im Corona-Hotspot Heinsberg zu dem Schluss, dass sich 15 Prozent der Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben – fünfmal mehr, als durch offizielle Tests erfasst waren. Für Heinsberg errechnet er eine Sterblichkeit von 0,37 Prozent. Es ist eine Zahl, die deutlich unter den sonst genannten 1,98 Prozent liegt. Sie alarmiert die Gegner der Ausgangsbeschränkungen: Sind die Schließungen von Kita, Schulen und Läden noch verhältnismäßig? 

Hendrik Streeck, ein Held der Bild  

Dabei ist die Heinsberg-Studie genauso umstritten wie die Drosten-Studie. „Gangelt ist nicht repräsentativ für den Rest der Republik“, hatte dazu der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach gegenüber Cicero gesagt. Streeck muss sich den Vorwurf gefallen lassen, er habe dem Land Nordrhein-Westfalen als Geldgeber der Studie die Vorlage für dessen Öffnungskurs geliefert. 

Die Bild macht aus Streeck einen Helden. Sie begleitet seine Studie wohlwollend, er darf über den öffentlichen Druck reden, unter dem er steht: „Die Menschen wollen Antworten auf ihre Fragen, doch die Wissenschaft kann keine Ja-Nein-Aussagen liefern“. Er darf seine Studie auch in der Bild gegen die Kritik von Christian Drosten verteidigen. Die Bild inszeniert den wissenschaftlichen Streit als Krieg der Titanen. Ihr ehemaliger Chefredakteur Kai Diekmann mischt darin mit. Seine PR-Firma „Storymachine“ bereitet die Streeck-Studie werbewirksam für Social Media auf. Angeblich ohne dafür Geld von Streeck oder Laschet zu nehmen. 

Ein Wort macht den Unterschied 

Mit ihrer vernichtenden Kritik an der Drosten-Studie hat sich die Bild jetzt verhoben. Sie hat ihren Lesern höchstpersönlich die Ja-Nein-Aussage geliefert, die die Wissenschaft nicht liefern kann und nicht liefern will. „Grob falsch“ sei die Studie, behauptet sie – und ignoriert dabei ein wichtiges Wort: könnte. 

Christian Drosten hat nie behauptet, dass seine Studie repräsentativ sei. Er kommt zu dem Schluss, dass es sein könnte, dass Kinder und Jugendliche genauso viele Viren im Rachen entwickeln könnten wie Erwachsene. Die Bild hat aus dem Konjunktiv einen Indikativ gemacht. Kleiner Eingriff, große Wirkung. Das Blatt suggeriert, die Entscheidung von Bund und Ländern, Schulen und Kitas zu schließen, ginge auf diese eine Studie zurück. Dabei gibt es längst internationale Untersuchungen, die wesentlich repräsentativer und aussagekräftiger sind. So haben amerikanische Forscher in Wuhan herausgefunden, dass die Schulschließungen zu 40 Prozent dazu beigetragen haben, die Infektion mit Covid-19 zu drosseln. 

„Ein Fragezeichen hätte die Seite eins gerettet“

Nach der Darstellung der Bild steht Drosten jetzt aber als der Mann am Pranger, der die Schulschließungen zu verantworten hat. „Niederträchtig“ findet das einer, der von sich sagt, er habe viele Jahre bei der Bild gearbeitet und lese das Blatt immer noch gerne. Aber was sich der Autor der Drosten-Geschichte geleistet habe, sei ein „dramatischer Unfall“. 

Georg Streiter, nach seinem Abschied von der Bild 2010 Regierungssprecher von Angela Merkel und jetzt im Ruhestand, geht mit seinem ehemaligen Arbeitgeber hart ins Gericht. Die Schlagzeile sei durch nichts belegt. Er als „alte Boulevardsau“ hätte dem Autor geraten, einen Politiker als Kronzeugen zu suchen oder wenigstens ein Fragezeichen hinter die Schlagzeile zu setzen. „Das hätte die Seite eins schon gerettet", sagt er Cicero. „Es gibt so ein schlankes Fragezeichen, das sieht aus wie ein Ausrufezeichen mit leichtem Schwung.“ 

Kritik an den Medien 

Streiter spricht von einer Kampagne der Bild gegen Drosten. Dem Autor Filipp Piatov wirft er vor, er wolle Drosten, die heilige Kuh der Virologie, „zur Schlachtbank führen“, um den Auflagenschwund des Blattes zu stoppen. Der Sprecher des Blattes wollte sich dazu nicht äußern. Eine Anfrage von Cicero blieb unbeantwortet.

Der Angriff auf Drosten lief ins Leere. Dafür hat der Virologe selbst gesorgt. Anders als von der Bild dargestellt, ist er um Transparenz bemüht. In seinem Podcast im NDR, dem „Corona-Update“, berichtet der Virologe zweimal die Woche über seine Arbeit. Er spart darin auch nicht mit Kritik an den Medien. Er habe keine Lust mehr, in Talkshows zu gehen, sagt er einmal. Vielen Medien ginge es nicht darum, Wissen zu vermitteln. Sie würden lieber polarisieren. 

Ein Opfer, das sich wehrt

Nach diesem Mechanismus funktioniert auch die Bild-Titelgeschichte. Drosten erfuhr von ihr, bevor sie veröffentlicht wurde. Und er tat etwas, was die meisten „Opfer“ der Bild gewöhnlich nicht tun. Er wehrte sich. 

Er habe eine Stunde Zeit, sich zu der Kritik der Wissenschaftler an seiner Studie zu äußern, schrieb ihm der Autor. Drosten veröffentlichte einen Screenshot der Email samt der Telefon-Nummer von Piatov auf Twitter und warnte seine Follower vor: „Die Bild plant eine tendenziöse Berichterstattung über unsere Vorpublikation zu Viruslasten und bemüht dabei Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang. Ich soll innerhalb von einer Stunde Stellung nehmen. Ich habe Besseres zu tun.“

Drostens Kampfansage an Bild   

Den Tweet löschte er kurze Zeit später, um ihn noch dann noch einmal zu posten – diesmal ohne die Telefonnummer. Aber auch dieser Tweet las sich wie eine Kampfansage an die Bild. Ein kluger Schachzug? Georg Streiter sagt, er hätte Drosten davon abgeraten. „Er hat dem Stier jetzt das rote Tuch vorgehalten.“ Die Kampagne gegen ihn werde weitergehen. 

Drosten bekommt schon seit einiger Zeit anonyme Morddrohungen. Der Krieg mit der Bild scheint nicht geeignet zu sein, seine Kritiker zu besänftigen. Noch am selben Tag erhielt er wie sein Kollege Karl Lauterbach ein „Drohpaket“. Es enthielt ein Fläschen mit einer unbekannten Flüssigkeit und einen Zettel mit der Aufschrift: „Trink das – dann wirst du immun.“ 

Anzeige