Berlinwahl - „Religion ist Privatsache, Extremismus nicht“

Für seinen Wahlkreis Nord-Neukölln will Erol Özkaraca ohne den Rückhalt seiner Partei einen Sitz im Berliner Abgeordnetenhaus erringen. Als säkularer Muslim sitzt der SPD-Mann zwischen allen Stühlen

Erol Özkaraca kämpft um den Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus / Hüseyin Islek
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Autoreninfo

Ramon Schack ist Journalist und Buchautor mit Sitz in Berlin. Zuletzt erschienen seine Bücher „Neukölln ist nirgendwo“ und „Begegnungen mit Peter Scholl-Latour“.

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Die Hermannstraße ist eine der großen Einkaufs-und Verkehrstraßen des Berliner Bezirks Neukölln, teils heruntergekommen, teils im Aufbruch befindlich. Schon am frühen Morgen donnern hier LKWs und Doppeldeckerbusse entlang. Ein Obdachloser schält sich aus seinem Schlafsack, der von leeren Alkoholflaschen umrahmt wird. Ein penetranter Uringeruch liegt in der Luft. Es ist nicht weit zum Schillerkiez, dem neuen, jungen, urbanen Neukölln.

Hier, in einem unscheinbaren Achtzigerjahre-Bau, befindet sich das Abgeordnetenbüro von Erol Özkaraca. Der türkischstämmige SPD-Politiker kämpft von hier aus um seinen Platz im Abgeordnetenhaus, das am Sonntag gewählt wird. Doch diesmal ist alles anders. Diesmal ist Özkaraca allein. Von seiner Partei bekommt er keine offizielle Unterstützung, bei der Delegiertenversammlung im November wurde ihm ein Listenplatz verwehrt.

Streit mit Partei über Trennung von Staat und Kirche

Im Sommer 2015 hatte sich Özkaraca mit seinem Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh, wie er Muslim, überworfen. Es ging um die Frage, wie nah Islam und Staat sich kommen dürfen. Özkaraca interpretiert seinen Glauben liberal, er besteht auf einer strikten Trennung zwischen Religion und Staat. Saleh trat dagegen ein für einen Staatsvertrag mit Berlins muslimischen Verbänden, wie in Hamburg und in Bremen. Und er zeigte sich offen für eine Änderung des Berliner Neutralitätsgesetzes, das Lehrern sichtbare religiöse Symbole verbietet, also auch Frauen ein Kopftuch.

Vor dem Bürofenster Özkaracas ist eine ganze Batterie von seinen Wahlplakaten aufgestellt, versehen mit dem Konterfei des Kandidaten sowie politischen Slogans, die angesichts der allgemeinen Einfallslosigkeit der sonstigen gedruckten politischen Aussagen teils frech, teils provokant erscheinen. „Der Rechtsstaat gilt überall. Sogar in Neukölln“ steht dort zu lesen, oder „Religion ist Privatsache. Extremismus nicht“.

Özkaraca kämpft um ein Direktmandat

In seinem Büro herrscht Chaos. Aktenordner, Wahlflyer und Plakate bedecken den Schreibtisch, in dem überfüllten Aschenbecher glimmt eine Kippe. Dahinter sitzt Özkaraca, 53, von Beruf Anwalt, Halbglatze, Hemd. Auf dem Boden lehnt ein Porträt von Willy Brandt. Özcaraca spricht mit Gerald Winter. Der ist sein Wahlkampfmanager, ein Parteifreund und alter Kumpel, Politologe von Beruf und macht ihn gerade auf eine Analyse aufmerksam, wonach die grüne Hegemonie im Wahlkreis zu wackeln beginnt. „Ha!“, ruft Özkaraca aus, läuft zum Kühlschrank, der randvoll mit Cola Zero gefüllt ist, und gönnt sich und seinem Besucher eine Dose. Er kann nur über ein Direktmandat in das Abgeordnetenhaus kommen. Etwa die Hälfte der Parlamentarier wird direkt gewählt. 652 Direktkandidaten treten in 78 Wahlkreisen der Hauptstadt an.

Erol Özkaracas größte Konkurrentin ist Susanna Kahlefeld, die Spitzenkandidatin der Grünen im Wahlkreis Neukölln 2. Es wird knapp. Rund 25 Prozent der Erststimmen erhielt Özkaraca bei der vergangenen Wahl 2011, Kahlefeld knapp 30. „Wir kämpfen wirklich um jede Stimme, das wird eine Zitterpartie“, sagt Özkaraca. „Die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich verändert. Wir werden sehen, wie sich das auswirkt.“

Neukölln hat sich verändert

Er selbst wuchs in Hamburg-Sasel auf und kam 1987 nach Berlin-Neukölln. Lange Zeit galten die Einwohner des Bezirks, und vor allem von Özkaracas Wahlkreis, fast als als Aussätzige, zumindest in der medialen Wahrnehmung. Ihr Auftreten, Aussehen, ihre Herkunft und ihr Verhalten waren gleichbedeutend mit all den Phänomenen, vor denen sich Deutschland fürchtet: soziale Verwahrlosung, Überfremdung, gescheiterte Integration, prekäre Lebensverhältnisse, Hartz IV, Kriminalität und Gewalt. Sollte das jemals der Realität entsprochen haben, schaut es inzwischen ganz anders aus. Die Gegend ist im Kommen, der Prozess der Gentrifizierung schreitet voran. Der Stadtteil befindet sich auf einer Reise, deren Geschwindigkeit permanent zunimmt – mit unbekanntem Ziel. 

Für Erol Özkaraca ist sein Wahlkreis heute einer der aufregendsten Orte der Republik. Ein explosiver und stimulierender demografischer Mix sei das aus Schwaben und Salafisten, Hipstern und Hartz IV-Empfängern, kleinbürgerlich bis bettelarm, neureich und neurotisch. „Es macht Spaß, hier zu kandidieren“, sagt er, auch wenn er schon seit längerer Zeit nicht mehr hier lebt. Er ist ins bürgerliche Frohnau gezogen, im hohen Norden der Hauptstadt, mehr als 20 Kilometer von Nordneukölln entfernt. Özkaraca sagt, die Familie habe ein Haus mit Garten gewollt, das gebe es im Neuköllner Norden nun mal nicht. „Ich bin da eigentlich nur zum Schlafen, kenne mich dort kaum aus.“

Nähe zu Heinz Buschkowsky 

In der Berliner SPD gilt er als politischer Ziehsohn des ehemaligen Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky, der mit seinen provozierenden Thesen zur Integration durch die Talkshows der Republik tourte und den Bestseller „Neukölln ist überall“ schrieb. Buschkowsky hat der Neuköllner SPD inzwischen verboten, Werbung mit seinem Namen zu machen. „Ich möchte Euch auffordern, die Facebook-Seite in meinem Namen mit sofortiger Wirkung einzustellen“, forderte er vor einigen Monaten seine Parteigenossen auf. Grund war der Besuch seiner Nachfolgerin und Parteigenossin Franziska Giffey in einer vom Verfassungsschutz beobachteten Moschee. Laut der Behörde gehört die Gemeinde zur radikalislamischen Muslimbruderschaft, die einen Gottesstaat propagiert. Özkaraca stimmt nicht mit allen Positionen Buschkowskys überein, aber: „Da bin ich ganz auf der Linie von Heinz.“

Zum Kopftuchverbot in Berlin war von Özkaraca zu hören, eine Erlaubnis würde Parallelstrukturen fördern und die Integration behindern. „Dann werden ausgerechnet die liberaleren Muslime unter Druck gesetzt, die wir eigentlich fördern wollen.“ Nicht nur in seiner Partei, auch in seinem Wahlkreis polarisiert Özkaraca mit solchen Sätzen. Er erhält viel Zuspruch, aber auch Gegenwind: „Biodeutsche“, die ihn aufgrund seiner türkischen Herkunft bepöbeln, Islamisten, die ihn bedrohen, und selbsternannte Gutmenschen, die ihn als Populisten schmähen, der AfD-Thesen im SPD-Gewand vertrete. „Ja, ich befinde mich zwischen allen Stühlen“, bekennt er schmunzelnd. „Aber vielleicht mache ich ja was richtig, wenn sich einige Leute so aufregen?“ Ein bisschen mehr Unterstützung von seiner Partei würde er sich aber schon wünschen.

Özkaraca warnt vor dem politischen Islam

Sein Wahlkampfteam besteht aus einigen jungen Leuten. Der Auszubildende Furkan K. verteilt jeden Abend Wahlkampfmaterial in den dichtbevölkerten Straßen Nordneuköllns. Dabei habe es auch schon handfeste Drohungen gegeben. Aber Erol Özkaraca lässt sich nicht abbringen von seinem Hauptanliegen: der politische Islam und dessen Auswirkungen auf das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. „Wenn wir als Volkspartei dieses Thema nicht offensiv angehen, dann fliegt uns schon bald einiges um die Ohren.“ Die SPD verhalte sich da oft politisch naiv. „Dabei benötigt man weder billigen Populismus noch die rosarote Brille. Gesunder Menschenverstand ist eigentlich ausreichend.“

Erol Özkaraca begleitet den Besucher vor die Tür seines Büros. Auf eines seiner Wahlplakate hat irgendjemand einen ausländerfeindlichen Spruch geschmiert. Er nimmt es gelassen. „Das kenne ich schon seit meiner Kindheit, so ganz werde ich wohl nie in Deutschland ankommen, da kann ich beruflich aufsteigen, mich integrieren, wie ich möchte, solche Sprüche wird es immer geben.“

Er berichtet, wie er 1991 nach Neukölln zog, frisch verheiratet, und der Vermieter auf dem Mietvertrag handschriftlich eine Klausel hinzugefügt hatte, wonach das Schlachten von Schafen auf dem Balkon verboten sei.

Jetzt, auf der Straße, bittet ihn eine blonde Frau um ein Autogramm. „Ick finde Sie knorke, obwohl Sie ja aus Hamburg stammen“, sagt sie.

Nachtrag: Erol Özkaraca hat es nicht geschafft, er unterlag in seinem Wahlkreis Neukölln 2 der Grünen-Kandidatin Susanna Kahlefeld
 

 

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